Bienzle und der Biedermann

Folge: 266 | 6. Dezember 1992 | Sender: SDR | Regie: Peter Adam
Bild: SWR/Schröder
So war der Tatort:

Bieder. 

Mit dem neuen Stuttgarter Hauptkommissar Ernst Bienzle (Dietz Werner Steck, zuvor bereits in Stuttgarter Blüten und weiteren Folgen als Nebendarsteller zu sehen) feiert 1992 ein Ermittler sein Debüt, der so schwäbisch daherkommt wie kein zweiter in der Tatort-Geschichte und der der Krimireihe trotz seines biederen, störrischen Naturells und des bisweilen etwas gedankenverloren wirkenden Auftretens fast fünfzehn Jahre lang erhalten bleibt. Ein echtes Original.

Gleich bei seinem ersten Einsatz kann sich Bienzle auf seine treue Dauerfreundin Hannelore Schiedinger (Rita Russek, Blaßlila Briefe) verlassen, die angenehm aufgeweckt wirkt und den etwas muffeligen Vorzeigeschwaben mit ihrer frechen Art aus der Reserve lockt: Die kurzweiligen Dialoge zwischen "Ärnschd" und Hannelore, die auch den gemeinsamen VW Passat fahren darf, werden zum Markenzeichen und sind zugleich das Erfrischendste in einem konventionell arrangierten, wenn auch (damals) vieldiskutierten Krimi.

Das Autorenduo Felix Huby (Salü Palu) und Dieter de Lazzer (Bienzle und der Feuerteufel), das das Drehbuch zum 266. Tatort unter Mitarbeit von Regisseur Regisseur Peter Adam (Alles Theater) schrieb, schickt Bienzle und seine kecke Begleitung in der zweiten Filmhälfte auf eine feuchtfröhliche Feier: das traditionelle Reh-Essen des angesehen Unternehmers und vermeintlichen Biedermanns Paul Stricker (souverän: Rüdiger Vogler, Grabenkämpfe), der neben dem zwielichtigen Anwalt Dr. Joachim Dreher (Hanns Zischler, Häschen in der Grube) so ziemlich alles zum Wildschmausen versammelt, was in der Lokalpolitik der baden-württembergischen Landeshauptstadt Rang und Namen hat. 

Nicht nur Strickers Ehefrau Ingrid (Heide Simon, Die harte Kern) hat dabei über die Jahre gelernt, dass weniger das gute Essen und das gesellige Beisammensein unter Freunden, als vielmehr das politische Netzwerken und das Sehen-und-Gesehen-werden in elitären Kreisen der Hauptgrund für das zahlreiche Erscheinen der einflussreichen Gäste ist.


HANNELORE:
Es ist nicht Ihr Fest, gell?

STRICKER:
Gewiss nicht. Früher war das anders. Heute kenne ich nicht einmal mehr die Leute alle. Und ich weiß eigentlich auch gar nicht, was hier passiert.


Bienzle und der Biedermann ist ein lange Zeit recht gemächlich vor sich hin plätschernder Wirtschaftskrimi, dessen Originaldrehbuch zwei Jahre später – wie bereits andere Bienzle-Krimis vor ihm – auch als Roman erscheint. Die Filmemacher kreuzen das eher wenig aufregende Thema Wirtschaftskriminalität (hier: der Reimport von ungenießbarem Fleisch und das Erschleichen von EG-Subventionen) allerdings mit einem eigenwilligen Exkurs ins Sado-Maso-Milieu und einem daraus resultierenden Familiendrama – das funktioniert mal besser, mal schlechter.

Trotz des Verzichts auf das gewohnte Whodunit-Prinzip gibt es dabei die obligatorische Leiche zum Auftakt: Bienzles Assistent Günter Gächter (Rüdiger Wandel, Machtlos) erschießt bei einer LKW-Kontrolle in Notwehr einen der zwei Fahrer – was keineswegs heißt, dass der Todesfall in der Folge eine nennenswerte Rolle spielen würde. Sie dient vor allem dem Befriedigen der Sehgewohnheiten der über 11 Millionen TV-Zuschauer, die bei der Premiere in den frühen 90er Jahren einschalten – eine starke Quote.

Statt sich auf die Machenschaften der aalglatten Politiker und die Schlupflöcher des Wirtschaftsrechts zu konzentrieren, peppen die Filmemacher den thematisch eher trockenen Tatort mit einer mutigen, aber spätestens beim Showdown Richtung unfreiwillige Komik gipfelnden Sex-Geschichte auf: Unternehmertochter und Anwaltsschwarm Cordula Stricker (Christina Plate, Finale am Rothenbaum), die gleich in ihrer ersten Szene nackt auf der Kloschüssel sitzt und mit ihrem blanken Busen durchs Bild wackelt, bessert sich als Prostituierte in Lack und Leder das Einkommen auf und trifft im Keller eines SM-Etablissements tatsächlich ihren eigenen Vater (!). Eine denkwürdige Szene – aber auch wahnsinnig konstruiert. 

Weil auch ihr Vater, der sich gerade von einer Domina auspeitschen lassen will, ihre Stimme erkennt, ist der Konflikt früh vorprogrammiert – und entlädt sich schließlich auf der Zielgeraden des Krimis in einem blutigen Drama. Bis dahin ist der Weg allerdings weit – und der erste Tatort mit "Ärnschd" Bienzle zwar kein schlechter und ansprechend besetzter, stellenweise aber auch sehr zäher und ziemlich klischeehaft erzählter Krimi aus Ländle.

Bewertung: 5/10

Ein Fall für Ehrlicher

Folge: 253 | 19. Januar 1992 | Sender: MDR | Regie: Hans-Werner Honert
Bild: MDR
So war der Tatort:

Ostdeutsch. 

Ein Fall für Ehrlicher ist nämlich nicht nur der erste Einsatz von Hauptkommissar Bruno Ehrlicher (Peter Sodann) und dem vornamenlosen Unterkommissar Kain (Bernd Michael Lade, Brandmal), sondern zugleich der erste Tatort überhaupt, der aus den neuen Bundesländern stammt. Hauptdarsteller Sodann hatte vor seinem ersten Engagement für die Krimireihe in der DDR Erfolge am Theater gefeiert und war gleich Feuer und Flamme gewesen, als man ihm die prestigeträchtige Rolle anbot. 

Man hätte dem später langjährigen TV-Kommissar und Bundespräsidentschaftskandidaten zum Auftakt einen hochklassigeren Fall gewünscht: Ein Fall für Ehrlicher – der recht beliebig ausfallende Folgentitel deutet es bereits an – führt den muffeligen Dresdner Ermittler und Ehemann zwar ausführlich beim gesamtdeutschen Publikum ein, erleidet als Krimi aber Schiffbruch. 

Regisseur und Drehbuchautor Hans-Werner Honert (Bomben für Ehrlicher), der in den 90er Jahren noch viele weitere Folgen für den MDR schrieb und inszenierte, versteht es überhaupt nicht, die beiden Handlungsstränge um die einleitend splitterfasernackt zu sehende, bald vom Erdboden verschluckte Tanja (Claudia Stanislau) und die Ausländerfeindlichkeit gegenüber dem polnischen Bauarbeiter Daniel Tuskiewitsch (Aleksander Trabczynski) ansprechend auszuarbeiten und dramaturgisch miteinander zu verweben. Die Auseinandersetzung mit der vermeintlichen Migrantenproblematik beschränkt sich auf das Zitieren von Stammtischparolen und müden Toleranzbekenntnissen, der eigentliche Fall um das vermisste Mädchen hingegen rückt schon bald in den Hintergrund. 

Auch inszenatorisch lässt Honert das Feingefühl vermissen. Beispielhaft dafür steht die Auflösung des Tathergangs, den der Leipziger Filmemacher einfach als Rückblende nachreicht: Was normalerweise binnen Sekunden abgefrühstückt sein und nur einer kurzen Erklärung dienen sollte, um die Spannung nicht verpuffen zu lassen, erzählt Honert seinem Publikum in aller Seelenruhe – minutenlang. 

Dramaturgisch deutlich sinnvoller ist diese erzählerische Ausführlichkeit im Hinblick auf Ehrlichers Familie, die angenehm umfassend porträtiert wird, und seinen Vorgesetzten, den argwöhnischen Dienststellenleiter Veigl (Gustl Bayrhammer, Der Boss). Hundefreund Veigl, von 1971 bis 1981 als Hauptkommissar für den Münchner Tatort im Einsatz und im zweiten Ehrlicher-Fall Tod aus der Vergangenheit ein weiteres Mal in Dresden zu sehen, verkörpert hier das Abziehbild des überheblichen Wessi-Beamten, der den neuen ostdeutschen Kollegen nicht über den Weg traut und Ehrlicher Gelegenheit gibt, gegen diese Vorurteile anzukämpfen. 

Und Kain? Der spielt zum ersten, aber bei weitem nicht zum letzten Mal die zweite Geige. Schließlich heißt der 253. Tatort ja auch Ein Fall für Ehrlicher.

Bewertung: 3/10