Der kalte Tod

Folge: 343 | 6. Oktober 1996 | Sender: SWF | Regie: Nina Grosse
Bild: SWR
So war der Tatort:

Columbolike. 

Denn Drehbuchautor Sascha Arango, der später auch für herausragendes Skripts wie denen zu den strukturell ähnlich angelegten Kieler Hochkarätern Borowski und das Mädchen im Moor oder Borowski und die Frau am Fenster verantwortlich zeichnet, verzichtet beim ersten gemeinsamen Einsatz von Hauptkommissarin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) und ihrem neuen Kollegen Mario Kopper (Andreas Hoppe) auf das bewährte Whodunit-Prinzip. 

Stattdessen liefert er dem Publikum – in bester Columbo-Manier eben - eine ausführliche Einleitung, in der auch Der kalte Tod der hübschen Medizinstudentin Stella Eisner (Sophie von Kessel, Das verlorene Kind), nicht verwandt mit dem späteren Wiener Hauptkommissar Moritz Eisner (Harald Krassnitzer), illustriert wird. Es dauert über eine Viertelstunde, ehe Odenthal und Ex-Sitten-Ermittler Kopper, die sich bei einer gemeinsamen Skatrunde im Kollegenkreis gleich zwei große, gut sichtbar im Bild platzierte Prinzen-Rollen gönnen, überhaupt auf der Bildfläche erscheinen. 

Bis dahin erfährt der Zuschauer alles, was er über den krankhaft in die eigene Studentin verliebten Professor Otto Sorensky (Matthias Habich, Neuland) und deren Liebhaber Hendryk Dornbusch (Johannes Brandrup, Ein Hauch von Hollywood) wissen muss: Während Dornbusch als Medizinstudent, der kein Blut sehen kann, und Spontan-Entführer der ermittelnden Hauptkommissarin im weiteren Verlauf des Krimis eher der Lächerlichkeit preisgegeben wird, präsentieren Arango und Regisseurin Nina Grosse (Schlaraffenland) mit Sorensky einen cleveren, überheblichen Täter, dessen hohe Intelligenz, eiskalte Präzision und bestialische Mordmethoden nicht von ungefähr Erinnerungen an Kultkiller Dr. Hannibal Lecter aus Das Schweigen der Lämmer wecken.


SORENSKY:
Hausdurchsuchung... Wo wollen Sie anfangen? Gleich hier unten? Überall könnten Leichen versteckt sein... Oder oben im Schlafzimmer? Udo, wo versteckst du eigentlich deine Leichen?


Gefunden werden in der Tiefkühltruhe des Mediziners allerdings nur Wildschweinkoteletts und Rehrücken, und so dreht sich alles um die Frage, wie es der stalkende Pathologe und Katzenfreund – glänzend gespielt von Matthias Habich – fertig gebracht hat, die Leiche seiner Ex-Liebhaberin ohne jede Spur verschwinden zu lassen. 

Vor allem in den letzten zehn Minuten des Tatorts, in denen sich Odenthal in typischer Manier allein in die Höhle des Löwen begibt, schießt die Spannungskurve förmlich durch die Decke. So sind die kleineren Längen im Mittelteil, in dem das Verhältnis zwischen Odenthal und ihrem neuen Kollegen ausgelotet wird und Kopper sich als Liebhaber italienischer Kleinwagen mit einer Schwäche für Zigarillos und stinkende Fischbrötchen outet, leicht zu verschmerzen. 

Aus historischer Sicht wartet Der kalte Tod übrigens noch mit einer ganz besonderen Szene auf: Hauptdarstellerin Ulrike Folkerts ist in diesem Tatort tatsächlich nackt – oder zumindest halbnackt – zu sehen. Schluchzend wirft sich die aufgelöste Odenthal in der letzten Einstellung des Films, die in dieser Form heutzutage niemals denkbar wäre, mit blutverschmiertem, blanken Busen an Koppers breite Brust. Sie hat im 343. Tatort – dem mit Abstand besten Odenthal-Fall überhaupt – schließlich auch einiges durchzumachen.

Bewertung: 9/10

Schattenwelt

Folge: 341 | 22. September 1996 | Sender: BR | Regie: Josef Rödl
Bild: BR
So war der Tatort:

Schattig. 

Und das nicht nur in der Auftaktsequenz: Kurz nach ihrer Ankunft am Münchner Hauptbahnhof verlieren sich die obdachlosen Tom Bombadil (Bruno Ganz) und Sarah (Lisa Kreuzer, Die dunkle Seite) in einem finsteren Parkhaus für einen Moment aus den Augen. Wenig später ist Sarah tot – überfahren vom ebenso aalglatten wie angetrunkenen Gutmenschen Ingmar Borg (Dominic Raacke, von 1999 bis 2014 als Hauptkommissar Till Ritter im Berliner Tatort zu sehen), der sein Geld mit Spendenprojekten für Bedürftige verdient. Bombadil bleibt nichts außer einem alten Walkman. 

Wie auch der Kölner Tatort Platt gemacht oder der Wiener Tatort Unten spielt Schattenwelt in der Welt der Wohnungslosen – doch steht in der Domstadt später vor allem die Suche nach dem Täter im Vordergrund, denn die Drehbuchautoren Joachim Masannek und Josef Rödl (Nach eigenen Gesetzen), der auch Regie führt, verzichten auf das Whodunit-Prinzip und widmen sich ganz dem Beleuchten der Milieudynamik. 

Im schlecht ausgeleuchteten Bunker unter der Bavaria, in dem Wohnungslose in einem kargen Schlafsaal die kalten Winternächte verbringen können, verschwimmen die Grenzen zwischen Gut und Böse und zwischen Schwarz und Weiß: Der obdachlose Rabe (stark: Erwin Leder) kümmert sich sofort um ein Bett für Neuankömmling Bombadil, erklärt, stets denjenigen zu helfen, die zu ihm halten, und wirbt für Mitgefühl gegenüber Menschen wie ihm und seinen Freunden ("Sind wir denn Monster?"). 

Aber engagiert sich Rabe wirklich so selbstlos für die anderen? Oder handelt er womöglich genauso eigennützig wie der geld- und prestigegierige Borg? Um ungeschminkte Einblicke und Informationen aus erster Hand zu erhalten, mischt sich auch der Münchner Hauptkommissar Ivo Batic (Miroslav Nemec) unter die Obdachlosen – die Rollenverteilung ist im Gespräch mit seinem Kollegen Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) nämlich schnell geklärt.


BATIC:
Einer muss an Borg ran, einer an die Penner.

LEITMAYR:
Ich weiß auch schon, wer was macht.

BATIC:
Musst mir halt ein paar von deinen Klamotten leihen.


Die Kommissare aus der Stadt an der Isar harmonieren bei ihrem 14. Einsatz so gut wie in kaum einer anderen Folge – dafür gibt es aber auffällige Differenzen mit Kriminaloberkommissar Carlo Menzinger (Michael Fitz), der seine Vorurteile gegenüber Obdachlosen ungeniert zum Ausdruck bringt. Aber auch mit den Behörden gibt es Reibereien: Besonders gelungen ist der Auftritt von Regisseur und Co-Autor Jörg Rödel, der die beiden Kommissare in seiner Rolle als grantiger Sachbearbeiter auf dem Sozialamt auf das Schild vor seinem Schreibtisch aufmerksam macht ("Immer nur Einer!"). 

Dreh und Angelpunkt des Films ist dennoch Bombadil, der eigentlich Dr. Thomas Bomberg heißt und Leitmayrs Recherchen zufolge zu den Guten gehört – zumindest, wenn er sich tatsächlich nach dem undurchsichtigen Berggeist in J.R.R. Tolkiens später verfilmtem Fantasy-Meisterwerk Der Herr der Ringe benannt hat. 

Passenderweise hält sich Dr. Bomberg am liebsten in Kirchen auf, doch nicht nur die Liebe zur Musik und zu Gotteshäusern teilt er mit dem Bach orgelnden "Beethoven" in Platt gemacht (mit Udo Kier ähnlich prominent besetzt): Beide stammen aus der Oberschicht und sind nach einem Schicksalsschlag auf der Straße gelandet. Bomberg zitiert zwar hin und wieder Paragraphen, hat aber sonst nicht mehr viel von einem Anwalt an sich und bildet so schon rein optisch den Gegenpol zum schnöseligen Borg, der mit seiner attraktiven Lebensgefährtin Michelle Angerer (Marion Mitterhammer, Blackout) von einem Champagnerempfang zum nächsten düst. 

Der für Tatort-Zuschauer aus heutiger Sicht ungewohnt bartlose Dominic Raacke verkörpert mit dem skrupellosen Wohltäter Borg allerdings eine etwas eindimensionale und langweilige Figur – insbesondere im Vergleich zu Bombadil, in dessen Rolle Kinostar Bruno Ganz eine herausragende Performance abliefert. Nicht zuletzt aufgrund seiner überzeugenden Interpretation eines feinsinnigen Mannes, dem das Leben übel mitgespielt hat, bleibt die Spannung bis zur Auflösung des obligatorischen zweiten Mordes erhalten. 

Der 341. Tatort überzeugt aber auch mit einer starken Atmosphäre, denn Kameramann Volker Tittel (Wir sind die Guten) fängt das schöne München – der Krimititel deutet es bereits an – von seiner Schattenseite ein: Wo auf der Theresienwiese alljährlich das größte Volksfest der Welt stattfindet, öffnen sich auf ihrer Rückseite die Tore des dunklen Bunkers. 

Überhaupt gibt es in Schattenwelt nicht viel natürliches Licht – und wenn, dann wird es meist durch den Münchner Hochnebel gefiltert. Roman Bunka (Musik, Alles Palermo) lässt dazu aus Bombadils Walkman melancholisches Violinenspiel ertönen oder untermalt den düsteren Münchner Winter mit den für Straßenmusik charakteristischen Akkordeonklängen.

Bewertung: 8/10

Schneefieber

Folge: 326 | 18. Februar 1996 | Sender: SWF | Regie: Peter Schulze-Rohr
Bild: SWR/Nowak

So war der Tatort:

Alpin.

Ausgangspunkt der hier besprochenen Tatort-Folge ist nämlich – der Titel deutet es bereits an – die traumhaft-winterliche Kulisse eines süddeutschen Alpenpanoramas. Doch sind es nicht etwa die Münchner Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) oder die Berner Ermittler Philippe von Burg (Laszlo I. Kish) und Markus Gertsch (Ernst C. Sigrist), die 1996 in Schneefieber auf Verbrecherjagd gehen. Das hätte geografisch nahe gelegen, der SWF schickt aber die junge Ludwigshafener Ermittlerin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) in verschneite Gefilde und damit auf teilweise ungewohnt rutschiges Terrain. Doch schlittert damit auch der Krimi in filmische Abgründe? 

Mitnichten. Der Tatort beginnt vielmehr mit einem perfiden Attentat: Ein Unbekannter schießt mit einem Gewehr auf einen fahrenden Zug und verletzt einen Fahrgast tödlich. Odenthal, die bei ihrem achten Einsatz von Kollegin Armbruster (Annette Felbert, Märchenwald) und Assistent Maurer (Alexander Held, Im Schmerz geboren) unterstützt wird, ist sich sicher: Bei dem Schützen handelt es sich um jenen anonymen Bahnerpresser, der seit geraumer Zeit mit Anschlägen auf Züge gedroht und sein Vorhaben nun in die Tat umgesetzt hat. Von der Presse wird der Attentäter als "Robin Hood" betitelt, da er Teile des erpressten Geldes an Bedürftige weitergibt.

Um den Todesschützen dingfest zu machen, organisiert die Kripo eine aufwändige Geldübergabe. Sie wird in bester James-Bond-Manier (schräges Rucksack-Gadget inklusive) vorbereitet und anschließend als actionreiche und rasante Verfolgungsjagd im verschneiten Schwarzwald inszeniert. Im Vorfeld ruft das bei Nordlicht Odenthal Sorgenfalten hervor.


ODENTHAL:
Wer von unseren Leuten kann denn Skifahren?

ARMBRUSTER:
Der Berlus, glaube ich. Der ist doch aus München.

ODENTHAL:
Ich bin auch aus Kiel und kann nicht segeln.


Parallel dazu erzählt der Film die Geschichte eines befreundeten Quartetts rund um den Apotheker Klaus Münter (Jörg Schüttauf, ermittelt von 2002 bis 2010 als Kommissar Fritz Dellwo im Tatort aus Frankfurt), der vom eigenen Skihotel in den Rocky Mountains träumt. Seine Ehe mit Frau Manu (Christina Plate, Bienzle und der Biedermann) kriselt. Stattdessen macht ihm seine attraktive Angestellte Vivi Saalbach (Anne Kasprik, Die Falle) eindeutige Avancen, was zu Spannungen zwischen den Eheleuten führt. Münters aalglatter Rechtsanwalt Dr. Marc Weinhauer (großartig: Günther Maria Halmer, Gestern war kein Tag), dessen bayrischer Dialekt den süddeutschen Einschlag zusätzlich unterstreicht, ist der Vierte im Bunde.

Bis zu diesem Zeitpunkt scheint der Film von Regisseur und Tatort-Urgestein Peter Schulze-Rohr, der neben dem Odenthal-Erstling Die Neue auch für die erste Tatort-Folge Taxi nach Leipzig verantwortlich zeichnet, klassischen Mustern der Krimireihe zu folgen: Als die Polizei einen anonymen Hinweis erhält und Münter mit einer größeren Menge Geld aufgreift, scheint die Sache klar. Doch Drehbuchautor Fred Breinersdorf (Gold) legt in der Folge gekonnt falsche Fährten, unterläuft Erwartungen und führt uns passend zum winterlichen Ambiente ein ums andere Mal aufs Glatteis.

Ein großes Plus ist im 326. Tatort die Vielschichtigkeit der Charaktere. Die Filmemacher nehmen sich viel Zeit für ihre Figuren und sorgen dafür, dass sich hinter Odenthals Rücken ein attraktives Katz-und-Mausspiel entspinnt, bei dem alle Beteiligten ein eigenes Ziel verfolgen. Bestes Beispiel ist die Figur Klaus Münter: In einer Sequenz reinigt er seelenruhig eine größere Menge Bargeld, präsentiert sich aber im Verhör mit Odenthal fast bemitleidenswert nervös und überfordert, um dann, in schierer Hilflosigkeit, seinen Anwalt Weinhauer anzurufen. Der sieht das Ganze aber entspannt und bringt lieber seine Vorliebe für den Steve-McQueen-Klassiker Thomas Crown ist nicht zu fassen zum Ausdruck.

So richtig schlau werden wir aus solchen Momenten oft nicht, aber genau das macht diesen Tatort so interessant. Je länger er dauert, desto stärker rücken die Beteiligten im Umfeld des Apothekers in den Fokus. Daraus entsteht eine Dynamik, die den Film bis zum Finale trägt. Im zweiten Teil wandelt er sich gar zum fiebrigen Gerichtsthriller. Der hohe Unterhaltungswert resultiert auch aus dem hervorragenden Cast, angeführt vom grandios aufspielenden Günther Maria Halmer. Er lässt mit seiner Performance als verschlagener Anwalt die übrigen Akteure fast blass aussehen, obwohl sie keineswegs enttäuschen.

Schneefieber ist damit unterm Strich eine der stärksten Odenthal-Folgen überhaupt. Der Tatort überzeugt als überraschender und doch stringent erzählter Krimi, der sich nicht zuletzt durch sein raffiniertes Drehbuch, die augenzwinkernden 007-Anleihen und die tolle Besetzung von der grauen Masse abhebt. Das eine oder andere Logikloch ist dabei zu verschmerzen – und auch über die peinliche Schleichwerbung für Slimfast (man beachte die Sequenzen in der Apotheke) müssen wir tapfer hinwegsehen.

Bewertung: 8/10