Schneetreiben

Folge: 617 | 18. Dezember 2005 | Sender: BR | Regie: Tobias Ineichen
Bild: BR/Bavaria Film/Hauri
So war der Tatort:

Bitterkalt. 

In Schneetreiben – der winterliche Krimititel deutet es unmissverständlich an – wird München nämlich von einer klirrenden Kälteperiode heimgesucht, und so wird bei den Ermittlungen, der Spurensuche am Tatort und bei der Befragung der Zeugen fleißig um die Wette gebibbert

Doch nicht nur die Münchener Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) leiden bei ihrem 42. Einsatz unter den arktischen Temperaturen: Eine nur mit Unterwäsche bekleidete Studentin erfriert in der von Regisseur Tobias Ineichen (Geburtstagskind) herausragend inszenierten, erschütternden Eröffnungssequenz auf offener Straße, besser gesagt: auf einem verschneiten Waldweg, mitten im Nirgendwo. Daneben steht ein silberfarbener Geländewagen, dessen Fahrer in aller Seelenruhe abwartet, bis die junge Frau ihren letzten Lebensatem aushaucht und im dichten Schneetreiben jämmerlich den Kältetod stirbt. 

Was für ein Auftakt! 

Erwartungsgemäß schaltet Ineichen nach dem denkwürdigen Mord jedoch zwei Gänge zurück und gönnt dem Publikum die erste Verschnaufpause: Entsetzte Blicke wollen ausgetauscht, Indizien gesichert und ahnungslose Väter und Arbeitgeber informiert werden.

Dass der 617. Tatort trotzdem nicht ins totale Spannungsloch fällt, liegt an Edelassistent Carlo Menzinger (Michael Fitz): Der muss sich diesmal mit der internen Ermittlung herumschlagen, weil er eine Zeugin zu hart angegangen sein soll, und steht den Kommissaren Batic und Leitmayr daher erst auf der Zielgeraden wieder zur Verfügung. 

Menzingers Stress mit den eigenen Kollegen bringt zwar kurzzeitig Dynamik in den nach dem furiosen Auftakt schleppend anlaufenden Krimi, erweist sich letztlich aber als Eigentor, weil Drehbuchautor und Tatort-Debütant Claus Cornelius Fischer den Handlungsstrang viel zu halbherzig ausarbeitet und früh wieder fallen lässt. Diese Drehbuchschwäche offenbart sich vor allem im Vergleich zum bärenstarken Münchener Tatort Der traurige König, in dem Franz Leitmayr ins Visier der internen Ermittlung gerät und daran psychisch fast zerbricht. 

So wird man das Gefühl nie ganz los, dass Fischer diesen Nebenkriegsschauplatz nur eröffnet, um den Fadenkreuzkrimi auf Spielfilmlänge zu strecken: Das von unterschwelligen Vorwürfen geprägte, groteske Dreiecksverhältnis zwischen den Privatiers Jasper Bruckner (Jan Hendrik Stahlberg, Ihr Kinderlein kommet) und Oliver Hufland (Wanja Mues, Der Tote vom Straßenrand) und dessen Freundin Katja Weiss (Edita Malovcic, Der Finger) bietet zwar reichlich Konfliktpotenzial und ist zweifellos die größte Stärke des Films, reicht aber als Antriebsfeder der Handlung für neunzig Minuten nicht aus. So wird auch dem trauernden Vater der Toten, Ludwig Thaller (Michael Brandner, Der Polizistinnenmörder), mehr Zeit eingeräumt als nötig. 

Immerhin: Die Dialoge sitzen, die Figuren bewegen sich außerhalb der Schablonenhaftigkeit und richtig spannend wird es im Schlussdrittel auch noch. Damit ist Schneetreiben unter dem Strich ein guter, aber kein sehr guter Tatort, der im Direktvergleich zur ähnlich frostigen Bodensee-Folge Herz aus Eis oder den vielen Münchner Hochkarätern nach der Jahrtausendwende klar den kürzeren zieht.

Bewertung: 7/10

Der doppelte Lott

Folge: 615 | 20. November 2005 | Sender: WDR | Regie: Manfred Stelzer
Bild: WDR/Michael Böhme
So war der Tatort:


Grenzwertig. 

Dass beim Tatort mit Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) und Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) laut gelacht werden darf, ist zwar seit dem überragenden Erstling Der dunkle Fleck gute Tradition – doch ein solch üppiges und zugleich gelungenes Satire-Feuerwerk, wie es das eingespielte Autorenduo Stefan Cantz und Jan Hinter (Summ, summ, summ) in Der doppelte Lott abbrennt, sucht beim Blick auf die bis dato ausgestrahlten Folgen aus Westfalen seinesgleichen. 

Der achte gemeinsame Einsatz der beiden ungleichen Ermittler ist so albern, zugleich aber so lustig wie zum damaligen Zeitpunkt kein zweiter – klamauklastige Krimis wie Das Wunder von Wolbeck oder Erkläre Chimäre folgen erst viele Jahre später. 

Regisseur Manfred Stelzer (Spargelzeit) meistert die oft schmale Gratwanderung zwischen Satire, wortwitzigen Zoten und klassischer Tatort-Unterhaltung aber traumwandlerisch souverän. Mit einer Ausnahme: Der golfende Boerne, der Thiels Auto demoliert und in den Vorgärten des pathologischen Instituts zum Einlochen kurzerhand einen Fahnenmast aus der Verankerung hebt, ist selbst für einen Tatort aus Münster zu viel des Guten. Hier verkommt Der doppelte Lott für einen kurzen Moment zur Klamotte, doch Stelzer findet schnell zurück in die Spur. 

Ansonsten reiht sich im 615. Tatort nämlich eine denkwürdige Szene an die nächste – beispielhaft dafür sei Boernes komischer, von genervtem Thielschen Augenrollen begleiteter Monolog zitiert.


BOERNE: 
Ich bin natürlich gerne bereit, Ihnen für diese MFG die nötige BKB zu leisten. Ich wette, Sie haben keine Ahnung, was das ist, he? Ah, Thiel, man merkt so deutlich, dass Sie nie studiert haben. Mitfahrgelegenheit. Benzinkostenbeteiligung. Sie haben nie in einer WG gewohnt, nicht? Ich schon. Nicht, dass ich es damals nötig gehabt hätte, das Ganze war mehr ein Experiment. Ein sozial-psychologisches Versuchsmodell.


Die stärkste Szene des Films bleibt aber eine unerwartete Begegnung in der Leichenhalle – doch nicht etwa in der von Boerne und Assistentin Silke "Alberich" Haller (Christine Urspruch). Einmal mehr ist Boerne nämlich persönlich in den Mordfall involviert und schleicht sich daher heimlich in die Kellerräume seines geschätzten Kölner Kollegen Dr. Joseph "Rottweiler" Roth (Joe Bausch). 

Der Roth? Ganz genau! 

Auch die Kölner Hauptkommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) sitzen bei Boernes unangekündigter Stippvisite verdattert im Nebenzimmer und trauen ihren Augen kaum. Diese kurze Begegnung der WDR-Ermittler zählt zu den spaßigsten Szenen der Tatort-Geschichte und ist auch in ihrer Länge perfekt konzipiert: Die wenigen, verdutzten Worte, die Ballauf und Schenk bei ihrem selbstironischen Cameo-Auftritt von sich geben, reichen vollkommen aus, um die Pointe genüsslich auszuspielen. Die Show gehört ansonsten Boerne. 

Auch Thiel hat einen großen Auftritt: Er darf in der Kneipe der Eltern von Nadeshda Krusenstern (Friederike Kempter) zum ersten Mal im Tatort eine Frau küssen – die deutlich jüngere Larissa (Chulpan Khamatova). Warum diese es auf den rechtsgerichteten, titelgebenden Politiker Frieder Lott (Alexander Held, Mord in der ersten Liga), das offensichtliche Tatort-Pendant zu Ronald Schill, abgesehen hat, klärt sich angenehm spät – nur eine von vielen Stärken dieser herausragenden Tatort-Folge aus Münster, bei der das Publikum mit einem köstlichen Radarfallen-Foto in den Abspann entlassen wird. 

Eine ganz ähnliche Szene gibt es viele Jahre später in Schwanensee – nicht unbedingt ein Zeichen dafür, dass sich der Tatort mit Thiel und Boerne nach großartigen Folgen wie Der doppelte Lott noch nennenswert weiterentwickelt hat.

Bewertung: 9/10

Rache-Engel

Folge: 614 | 13. November 2005 | Sender: SR | Regie: Robert Sigl
Bild: SR/Manuela Meyer

So war der Tatort:


Um einen der Schlüsseldialoge von Rache-Engel aufzugreifen: erlösend. 

Vor allem für Hauptkommissar und Radfahrer Max Palu (Jochen Senf) selbst – schließlich ist er schon lange nicht mehr der Genussmensch, der bei seinem Tatort-Debüt im Jahr 1988 in Salü Palu noch in aller Seelenruhe über Wochenmärkte schlenderte und mit Hingabe nach Baguette und Thymian Ausschau hielt, statt sich um feste Bürozeiten zu scheren. 

2005 trinkt der Bonvivant von einst den Rotwein direkt aus der Pulle, kotzt sich auf der Terrasse seiner Partnerin über seinen Alltag aus und stellt verbittert fest: "Ich dümpel doch nur noch vor mich hin." 

Das ist verdammt wahr – und daher ist Palus 18. und letzter Fall nicht nur für den Hauptkommissar selbst, sondern auch für viele Fernsehzuschauer die erhoffte Erlösung. Sonderlich beliebt war Palu beim Publikum nie, im Gegenteil, große Teile der Zuschauer mochten den kauzigen Querkopf nicht – doch konnte man dem Saarländischen Rundfunk trotz des harschen Gegenwinds nie vorwerfen, einen massenkompatiblen Sympathieträger auf Verbrecherjagd im Benelux-Grenzgebiet zu schicken. 

Palus Abgang, bei dem er seinen Kollegen Stefan Deininger (Gregor Weber), der mit Franz Kappl (Maximilian Brücker) zukünftig einen neuen Partner zur Seite gestellt bekommt, einfach stehen lässt, spricht auch in dieser Hinsicht Bände.


PALU: 
Das war's, Stefan. Kauf dir mal 'nen Anzug.


Der 614. Tatort markiert den Schlusspunkt einer Ära, die fast achtzehn Jahre andauerte. Damit ist Palu bis heute einer der langjährigsten Tatort-Ermittler. Als Krimi funktioniert Rache-Engel aber weit weniger gut, als es Hauptdarsteller Senf, der gemeinsam mit Andreas Föhr und Thomas Letocha auch das Drehbuch schrieb, lieb sein dürfte: Sieht man vom fulminanten Auftakt in der mondänen Villa des Opfers einmal ab, wirkt die Inszenierung von Regisseur Robert Sigl (Zielscheibe) zu überhastet, oft hektisch, fast ziellos. 

Der Kreis der Verdächtigen ist um mindestens eine Person zu groß, die Schnitte sind abrupt gesetzt und die Handlung springt permanent zwischen verschiedenen Schauplätzen hin und her. Das macht Rache-Engel unnötig anstrengend und selten zum Vergnügen. Einzig die Mordsequenz, in der geschickt mit unterschiedlichen Kameraperspektiven gespielt, das Geschehen aus Sicht mehrerer Personen geschildert und den Zuschauer minutenlang gekonnt an der Nase herumgeführt wird, erweist sich einleitend als Volltreffer. 

Als solcher entpuppt sich im Hinblick auf den Cast auch der vielfach leinwanderprobte Alexander Held (Der traurige König), der als aalglatter und eiskalter Geschäftsmann aus der klangvollen Besetzung um Aykut Kayacik (Auf der Sonnenseite) und Sylvester Groth (Das Dorf) noch einmal deutlich hervorsticht. Max Palu tat dies seit seinem ersten Einsatz – geschmeckt hat das vielen allerdings nicht.

Bewertung: 5/10

Atemnot

Folge: 611 | 28. Oktober 2005 | Sender: NDR | Regie: Thomas Jauch
Bild: NDR/Marion von der Mehden
So war der Tatort:

Atemberaubend – und das gleich in dreifacher Hinsicht.

Zum einen für die Opfer eines spektakulären Lebensmittelskandals, die in Atemnot mit kontaminierter Spaghettisoße des profitgierigen Corte-Konzerns vergiftet wurden und fortan nicht mehr ohne fremde Hilfe atmen, geschweige denn, sich bewegen können.

Aber auch für die LKA-Ermittlerin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler), die in einem ihrer persönlichsten Fälle gegen den eigenen Lebenspartner Tobias Endres (Hannes Jaenicke, Märchenwald), zum dritten Mal in Folge im Niedersachsen-Tatort an ihrer Seite zu sehen, ermitteln muss, und dabei zunehmend an seiner Unschuld zweifelt.

Vor allem aber für den Zuschauer, der nach einer guten halben Stunde Schonzeit mit einigen bemüht amüsanten WG-Szenen mit Lindholms Mitbewohner Martin Felser (Ingo Naujoks) und diversen kitschig-hölzernen Dialogen immer stärker an den Fernsehsessel gefesselt wird und von den Filmemachern kaum noch Zeit zum Luftholen eingeräumt bekommt.

Das Autorenduo Thorsten Näter (Königskinder) und Verena Mahlow liefert Regisseur und Tatort-Stammgast Thomas Jauch (Tote Männer) ab diesem Zeitpunkt ein nahezu perfektes, clever angelegtes Drehbuch, das im Fahrwasser großer Hollywood-Vorbilder schwimmt und konsequent auf ein hochdramatisches Finale zusteuert.

Seine stärkste Sequenz hat Atemnot aber bereits nach gut zwei Dritteln des Films: Lindholm, mittlerweile ein seelisches Wrack und von Zweifeln zerfressen, und der stark tatverdächtige Endres, der ihr gerade liebevoll eine Quiche Lorraine gebacken hat, geraten in der Küche heftig aneinander. Da bleibt Frauenversteher Felser im Anschluss nur noch das Auffegen der emotionalen Scherben.


LINDHOLM:
Tobias ist weg. Ich hab ihm gesagt, dass er mich betrogen, mich niedergeschlagen und eine Frau umgebracht hat.

FELSER:
Charlotte, du hast was getan? Das ist hart. Das ist wirklich hart.


Die packende Sequenz, auf die der Dialog anspielt und in der sowohl Furtwängler als auch Jaenicke schauspielerisch zu großer Form auflaufen, bildet den Auftakt zu einem hochspannenden Schlussdrittel, in dem sich die Ereignisse förmlich überschlagen und die LKA-Kommissarin sich niemals sicher sein kann, ob sie dem Mann, mit dem sie gerade ein Eigenheim baut, noch trauen kann. Enger und enger zieht sich die Schlinge um den Hals des ambitionierten Politikers, der mehr und mehr Verfehlungen eingestehen muss und sich damit immer stärker in die Schusslinie befördert. 

Was also fehlt dem 611. Tatort trotz dieses beeindruckenden Spannungsbogens und der glänzend aufgelegten Hauptdarsteller zum Prädikat Meilenstein?

Neben dem schwachen Auftaktdrittel ist es vor allem das Finale, das Jauch mit wechselnden Kameraperspektiven, langen Zeitlupen und melodramatischer Musik viel zu künstlich überhöht. Der atmosphärische Wechsel kommt zudem zu abrupt, wenngleich Jauch dabei den fast malerischen Zeitlupenflug eines Unfallwagens in der Einleitung stilistisch aufgreift.

Diese Schönheitsfehler ändern unterm Strich aber wenig daran, dass Atemnot beim Blick auf die Gesamtreihe als eine der stärksten Lindholm-Folgen in Erinnerung bleibt und nach dem verhaltenen Beginn bis zum erschütternden Ende unheimlich mitreißt.

Bewertung: 8/10

Borowski in der Unterwelt

Folge: 608 | 2. Oktober 2005 | Sender: NDR | Regie: Claudia Garde
Bild: NDR/Marion von der Mehden
So war der Tatort:

Unterirdisch – aber zum Glück nur im räumlichen, und nicht etwa im qualitativen Sinne

Drehbuchautor Sascha Arango sitzt nach dem herausragenden Kopper-Debüt Der kalte Tod und anschließender neunjähriger Tatort-Abstinenz zum zweiten Mal für die Krimireihe am Ruder und verfrachtet große Teile des Geschehens unter die Erde: Die Einleitung und der komplette Showdown von Borowski in der Unterwelt spielen – der nicht von ungefähr mythologisch angehauchte Krimititel deutet es bereits an – in der finster-feuchten Kieler Kanalisation. 

Dort haust ein Serien- und Säurekiller, der im Dunkeln von Hauptkommissar Klaus Borowski (Axel Milberg) und Kriminalkommissar Alim Zainalow (Mehdi Moinzadeh) gefunden werden will. So zumindest liest sich die Ausgangslage in der letzten halben Stunde des Krimis. Was aber bis zu diesem Zeitpunkt passiert, ist für Tatort-Verhältnisse mehr als außergewöhnlich. 

Arango, der seinen Mut zu ausgefallenen Geschichten noch viele weitere Male unter Beweis stellt (unter anderem bei Borowski und das Mädchen im Moor und bei Borowski und der Engel), testet die Grenzen des Sonntagabendkrimis nach Herzenslust aus, pfeift auf viele Tatort-Konventionen und nimmt die Antwort auf die Täterfrage – eines seiner Markenzeichen – einleitend vorweg. Oder vielleicht doch nicht? 

Der undurchsichtige Pfarrer Benz (Uwe Bohm, Schwindelfrei), der in der Kanalisation ein mit Säure und Leichenteilen gefülltes Fass zerschlägt und dabei zusieht, wie die bestialisch stinkende Brühe in den Nord-Ostsee-Kanal läuft, taucht auf dem Polizeipräsidium auf und bekennt sich aller Taten schuldig. Aber ist er auch der gesuchte Mörder? Und können ihm die Taten nachgewiesen werden?

Es bleiben Zweifel. Nicht nur, weil Pfarrer Benz sich an verdächtig viele Details der Gräueltaten nicht erinnern kann, sondern auch, weil das ja irgendwie zu einfach wäre. Und Arango wäre nicht Arango, wenn er dem Zuschauer nicht früher oder später den Boden unter den Füßen wegziehen würde – und das tut er im 608. Tatort gleich mehrfach. 

Spätestens, als sich Hermann Winter (Bernhard Schütz, Feuerteufel), der Vater der von Benz angeblich verschleppten und ermordeten Anhalterin Doreen (Nadja Bobyleva, Kaltblütig), zu einer blutigen Kurzschlussreaktion hinreißen lässt, steht der Krimi auf dem Kopf: Der vermeintliche Täter wird zum Opfer, das indirekte Opfer zum Täter – und der Zuschauer Zeuge dessen, wie sich die Ereignisse auf der Zielgeraden überschlagen. Das ist Tatort-Unterhaltung auf höchstem Niveau. 

Auch die knackigen Dialoge zwischen Borowski ("Ich dachte, ich kenne schon alles nach 20 Jahren Wühlerei im Dreck.") und Psychologin Frieda Jung (Maren Eggert), die sich diesmal unter anderem in einem Beichtstuhl unterhalten, bersten vor unterschwelligen Komplimenten und subtilem Wortwitz, der dem Kieler Krimi wieder ausgezeichnet zu Gesicht steht und den eher müden Auftritt von Sidekick Zainalow mühelos wettmacht. 

Dass Borowski in der Unterwelt die Höchstwertung auf der Bewertungsskala knapp verpasst, liegt an der relativ schleppenden ersten Filmhälfte und der guten, aber eben nicht sehr guten Regie von Claudia Garde (Frühstück für immer), die mit Arangos erstklassigem Drehbuch nicht ganz mithalten kann: Gerade angesichts des prickelnden Katz- und Maus-Spiels zwischen Pfarrer und Kommissar und des dreckig-düsteren Settings in der Kanalisation wäre stimmungstechnisch mehr drin gewesen. Klaustrophobische Atmosphäre will bei den Gummistiefeleien durch die unterirdischen Wasserwege nicht immer aufkommen

Dennoch: Borowski in der Unterwelt ist der erste und nicht nur visuell herausragende Kieler Tatort mit Borowski und Jung und die Antwort auf die Täterfrage eine der gewagtesten in der Geschichte der Krimireihe. 

Bewertung: 9/10

Requiem

Folge: 607 | 25. September 2005 | Sender: Radio Bremen | Regie: Thorsten Näter
Bild: Radio Bremen/Jörg Landsberg
So war der Tatort:

Expressionistisch. 

Denn schon die spektakuläre Schwarz-Weiß-Rückblende zu Beginn zeigt, dass Requiem kein gewöhnlicher Krimi ist: Der Bremer Unternehmer Gerd Wahlberg (Wolfram Koch, ab 2015 als Hauptkommissar Paul Brix im Frankfurter Tatort zu sehen) flieht vor einem Unbekannten und wird in seinem Space Park erschossen. 

Doch anders als sonst wirft der Mord an Wahlberg keine Fragen auf: Die Indizien gegen seinen Bruder Ludwig (Thomas Limpinsel, Lastrumer Mischung) sind erdrückend. Gerade das weckt aber das Misstrauen von Hauptkommissarin Inga Lürsen (Sabine Postel) – dann explodiert plötzlich eine Autobombe und die "berühmte Kommissarin" ist tot. 

Ernsthaft? 

Wenngleich ihr Kollege Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) und ihre Tochter Helen Reinders (Camilla Renschke) auf der Beerdigung ein paar Tränen verdrücken, erwacht Lürsen nach ihrem vermeintlichen Ableben nicht etwa auf einer Wolke, sondern im sterilen Inneren des stillgelegten Parks – und zwar in der Gewalt eines Serienkillers. 

Und was könnte es Schöneres geben als ein Candlelight-Dinner mit dem durchgeknallten Rechtsmediziner Martin Lohmann (Thomas Thieme, Willkommen in Köln), der sein letztes "Meisterstück" für Lürsen inszeniert – inklusive einer von Ulrich Wickert moderierten Live-Schalte zur eigenen Beerdigung und lasziver Abendgarderobe?


LÜRSEN:
Wenn Sie glauben, dass ich das anziehe, dann sind sie verrückt!


In Anbetracht der Lage schmeißt sich die norddeutsche Mutti tapfer in den roten Fummel und liefert sich in der Folge ein Katz-und-Maus-Spiel mit Psychopath Lohmann, während Stedefreund durch ein perfides Komplott ins Visier der internen Ermittler gerät – ihm bleiben nur der Alkohol, Kriminalassistent Karlsen (Winfried Hammelmann) und Helens Mitbewohnerin Silke (Oona-Devi Liebich, Undercover), mit der zusammen der geschasste Outlaw heimlich ermittelt. Helen indes glaubt fest daran, dass ihre Mutter noch lebt: Die Messe in Requiem ist noch lange nicht gelesen.

Regisseur und Drehbuchautor Thorsten Näter, der zwei Jahre zuvor den Bremer Meilenstein Abschaum inszeniert, brennt im 607. Tatort ein wahres Film-Noir-Feuerwerk ab. Wir erleben ein Unterwelt-Szenario in düsteren Weitwinkel-Bildern, Beamte im Nadelstreifen-Mafiosi-Look und einen Score, der den pathetischen Duktus vergangener Krimi-Epochen wieder zum Leben erweckt: ein bisschen Bond, auf jeden Fall reichlich Wallace. 

Statt einen klassischen Whodunit lösen zu müssen, erfährt der Zuschauer allerlei über den größenwahnsinnigen Verrückten, der sich mit seinen Taten unsterblich machen will. Leider wirken seine langatmigen Ausführungen eher einschläfernd, was auch an der übertrieben farblos gehaltenen Figur liegt. 

Die Story ist ebenfalls vorhersehbar, was Freunde experimenteller Tatort-Folgen aber kaum stören dürfte: Dank des großen Wissensvorsprungs entstehen die altbewährten, stets mit einem Augenzwinkern unterlegten Spannungsmomente, und mit Charly Hübner (ab 2010 als Hauptkommissar Alexander Bukow im Polizeiruf 110 aus Rostock zu sehen) oder Thomas Limpinsel geben sich bekannte TV-Gesichter die Klinke in die Hand. 

Die Überführung ins neue Jahrtausend gleicht einer postmodernen Drag Show, in der klassische Unterhaltungsfilme aus biederen Zeiten zitiert werden. Näter eröffnet den Bremer Vergnügungspark, ein mittlerweile verwaistes Gelände, das an Raumschiff Orion und ähnliche Science-Fiction-Kulissen erinnert, ein letztes Mal. Die Kamera durchquert und überwacht Geheimgänge, Luftschächte und Schaltzentralen auf mehreren Ebenen. Damit bietet das futuristische Horrorschloss, in dem in den Nullerjahren Tausende von Euro wie in einem schwarzen Loch versackten, eine hervorragende Location für diese trashige Hommage und Reise durch die Filmgeschichte. 

Dabei hätte das Bremer Duo ruhig noch mehr auf die Kacke hauen können: Die Schuhe des abgehalfterten Kommissars, der für das Gute kämpft und sich selbst verliert, sind für Stedefreund noch ein bisschen groß. Lürsen hingegen verleiht dem Showdown noch ihre Aura deutscher Gründlichkeit, die Femme fatale nimmt man ihr jedoch nicht so recht ab – vielmehr wartet man darauf, dass sie nach getaner Arbeit nochmal schnell durchkehrt. 

Insgesamt liefert der Autorenkrimi aber alle klassischen Motive, die ein Schauerstreifen braucht: Näter überführt ein Kultgenre ins nüchterne Bremen und sorgt dabei sogar für Kinofeeling – eine bemerkenswerte Leistung.

Bewertung: 6/10

Der Teufel vom Berg

Folge: 604 | 7. August 2005 | Sender: ORF | Regie: Thomas Roth
Bild: rbb/ORF/Fischer

So war der Tatort:


Teuflisch. 

Denn Der Teufel vom Berg, eine von mehreren Tirol-Folgen innerhalb der Krimireihe, hält absolut, was der Tatort-Titel verspricht: Im Mittelpunkt steht der diabolische, charismatische Hauptverdächtige, der den spannenden Provinzkrimi wie keine zweite Figur prägt. 

Die Rede ist von Georg Hochreiter, in dessen Nebenrolle der spätere Tatort-Kommissar Ulrich Tukur (Wie einst Lilly) fünf Jahre vor seinem Debüt als LKA-Ermittler in Wiesbaden zu Hochform aufläuft: Der Exzentriker, Frauenheld, Frauenschläger und reiche Provokateur in Personalunion thront mit seiner nicht minder extravaganten Ehefrau Andrea (Susanne Lothar, Der glückliche Tod) majestätisch in einer Berghütte über dem verschlafenen österreichischen Dörfchen, in dem sich Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) im 604. Tatort wider Willen auf eine groteske Undercover-Odyssee begeben muss. 

Nach der schmerzhaften ersten Begegnung liefern sich Hochreiter und Eisner ein packendes Psychoduell, das der Wiener Ermittler am Ende nach Punkten klar verliert. 

Regisseur Thomas Roth (Der Millenniumsmörder) serviert dem Publikum einen eigenwilligen, aber bis in die Details durchdachten und authentischen Tatort, der sich erst ganz am Ende den ungeschriebenen Gesetzen des Sonntagskrimis im Ersten unterwirft und daher trotz des enormen Potenzials die Höchstwertung auf der Bewertungsskala doch noch klar verfehlt.

Eigentlich bringt Der Teufel vom Berg nämlich alles mit, was einen echten Tatort-Meilenstein ausmacht: den Bruch mit den gängigen Genre-Konventionen, einen stark aufspielenden Cast, eine steile Spannungskurve und nicht zuletzt eine ordentliche Portion Lokalkolorit. Insbesondere die Dialoge am Mittagstisch der einheimischen Familie Feichtner verlangen dem ungeübten Ohr des deutschen Zuschauers alles ab. 

Auch der österreichische Crazy-Star Robert Stadlober (Hydra) beweist bei seinem für lange Jahre letzten Tatort-Auftritt eindrucksvoll, dass er der österreichischen Kabarettistin und Schauspielerin Nina Hartmann, die in diesem Tatort die freizügige Sexbombe gibt, sprachlich in nichts nachsteht. 

Dass sich nach dem Abspann trotz aller dramaturgischen Qualitäten und dem bis dato hochklassigen Drehbuch von Felix Mitterer (Lohn der Arbeit) dennoch eine gewisse Enttäuschung beim Zuschauer einstellen mag, liegt an der früh vorhersehbaren Auflösung: Einmal mehr ist es das zum damaligen Zeitpunkt prominenteste Gesicht der Besetzung, das für den Mord verantwortlich zeichnet, obwohl die Tatmotive und Täter-Optionen doch so verschieden und zahlreich ausfallen. 

Schade: Der Teufel vom Berg hätte das Zeug zum Klassiker gehabt.

Bewertung: 8/10

Scheherazade

Folge: 600 | 5. Juni 2005 | Sender: Radio Bremen | Regie: Peter Henning und Claudia Prietzel
Bild: NDR/Radio Bremen
So war der Tatort:

Verschwörerisch.

Und das kommt nicht von ungefähr: Schon der pragmatische Arbeitstitel, unter dem diese Bremer Tatort-Folge gedreht wurde, lautete schließlich Verschwörung. Hauptkommissarin Inga Lürsen (Sabine Postel) und ihr Kollege Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) bekommen es darin mit einer ganz speziellen Person und ihrer noch sonderbareren Geschichte zu tun.

Viel Zeit für einen gemächlichen Einstieg in die 600. Tatort-Folge nimmt sich das auch privat liierte  Regieduo um Peter Henning und Claudia Prietzel, das später noch die Tatort-Folgen Ordnung im Lot und Echolot in den Sand setzt, allerdings nicht: Eine junge Frau hastet in bester Lola-rennt-Manier durch die Straßen, findet auf dem Teppich ihrer Wohnung einen Toten, hetzt weiter zum Polizeipräsidium und kann dort – relativ unbehelligt – bis in ein Verhörzimmer vordringen. Lürsen und Stedefreund stehen gerade kurz davor, einem Verdächtigen das Geständnis zu entlocken. So weit, so gut. Erstmal kurz durchatmen. 

Lürsen erkennt die Frau auf Anhieb wieder, hatte sie mit der drogenabhängigen und psychisch labilen Manuela "Manu" Truss (Esther Zimmering, Borowski und die Sterne) doch bereits vor Jahren Bekanntschaft gemacht. Aufgrund von Manus blühender Fantasie nennt sie sie seitdem nur noch Scheherazade – nach der berühmten Märchenerzählerin aus Tausendundeiner Nacht, der dieser Tatort seinen Titel verdankt. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass die erfahrene Kriminalistin der "Mein Freund ist tot"-Nummer zunächst keinen Glauben schenkt:


TRUSS:
Mein Freund ist tot. Marwan. Ermordet.

LÜRSEN:
Ach, und wer war's diesmal?


Doch zum Glück ist da ja noch Lürsens verständnisvoller Kollege Stedefreund: Er ist von Beginn an Feuer und Flamme für Manus Geschichte und etabliert sich schnell als treibende Kraft in einer recht verworrenen Story. 

Denn nachdem bei der anschließenden Besichtigung des Tatorts keine Leiche gefunden wird, präsentiert Manu den verdutzten Ermittlern bei laufendem Wasserhahn eine Erklärung in Form einer echten Weltverschwörung: Bei dem Toten handele es sich um niemand geringeren als ihren Mitbewohner Marwan al-Shehhi, angeblicher Todespilot der Terroranschläge vom 11. September, der aber in Wirklichkeit für den US-Geheimdienst spioniert habe, in Bremen untergetaucht und nun von der CIA getötet worden sei, da er über die wahren Hintergründe des Anschlags Bescheid gewusst habe. Wow. Ein Hauch von Homeland weht durchs beschauliche Bremen.

Schön wär's, denn was sich die Filmemacher für die Jubiläumsfolge der Krimireihe vorgenommen haben, ist unterm Strich eine Nummer zu groß. Kameramann Ngo The Chau, der später unter anderem den vieldiskutierten Nick-Tschiller-Erstling Willkommen in Hamburg filmt und bei der überragenden Nina-Rubin-Abschiedsfolge Das Mädchen, das allein nach Haus' geht Regie führt, fängt die psychische Ausnahmesituation der von Angst getriebenen Protagonistin zwar in wirkungsvollen Bildern ein, und auch die starke Performance von Esther Zimmering soll nicht unerwähnt bleiben. Beides kann die größte Schwäche des Paranoia-Thrillers aber nicht kaschieren: das Drehbuch. 

Denn so ganz passt das alles nicht zusammen. Die Auseinandersetzung mit den Hintergründen der Anschläge rund um 9/11 und den politischen Folgen bietet naturgemäß viel Potenzial, wird aber in Plattitüden abgehandelt. Die Filmemacher verlieren sich in dünnen Nebenschauplätzen, etwa Lürsens Sinnkrise ("Habe ich mich verändert?") und ihre damit einhergehende Affäre mit dem überheblichen Rolf Jahnussen (Peter Ender, Pauline). Auch er – das gehört fast dazu – ist natürlich irgendwie in den Fall verwickelt. Anspielungen auf Märchen wie Schneewittchen wollen auch noch untergebracht werden, lenken aber eher von der Handlung ab, als sie voranzubringen. 

Die Fremdschäm-Momente bleiben in diesem Fall Stedefreunds Assistenten (Dietmar Mössmer, Die Heilige) vorbehalten, der mit seinem schlafmützigen und pessimistischen Auftreten fast ein wenig an den späteren Kölner Tatort-Assistenten Norbert Jütte (Roland Riebeling) erinnert. Im Gegensatz zu seinem Pendant vom Rhein ist er hier aber so fehl am Platz wie die kitschige Casablanca-Sequenz am Flughafen, in der Lürsen und Jahnussen zum Abschluss noch einmal nette Allgemeinplätze austauschen.


JAHNUSSEN:
Es gibt eine Menge Wahrheiten im Leben.

LÜRSEN:
Nur irgendwann muss man sich entscheiden, welche Wahrheit man glaubt.


Die Wahrheit ist, dass dieser Tatort nicht überzeugt, denn er kann sich nicht entscheiden, was er eigentlich sein will: Geheimdienst-Thriller, Lovestory oder Suchtdrama? Am Ende bleibt vieles Stückwerk, und wahrlich: Weniger wäre hier mehr gewesen.

Bewertung: 4/10

Nur ein Spiel

Folge: 598 | 22. Mai 2005 | Sender: BR | Regie: Manuel Siebenmann
Bild: BR/Tellux-Film GmbH/Barbara Bauriedl
So war der Tatort:

Gar nicht so verspielt, wie es der Krimititel nahelegt.

Denn in diesem Münchner Tatort wird aus den Macht- und Verwirrspielchen hinter den Kulissen einer erfolgreichen Werbeagentur schnell blutiger Ernst: Ist Agenturchef Rolf Mading (Wolfgang Hinze, Das Totenspiel) zu Beginn der 598. Tatort-Ausgabe noch voller gespannter Erwartung auf dem Weg zu einem geschäftlichen Treffen, so liegt er kurze Zeit später erschossen auf dem Boden eines leerstehenden Büros.

Die Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) nehmen die Ermittlungen auf und ihr Verdacht fällt natürlich auf den Mann, mit dem Mading in dem Bürokomplex verabredet war: Stephan Toczec soll er heißen – doch es stellt sich schon bald heraus, dass der eine Art Phantom ist.

Bernd Telwang (Philipp Moog, Der Wüstensohn), ein Angestellter des ermordeten Mading, erklärt den Kommissaren, dass niemand Toczec je zu Gesicht bekommen hat. Seit längerer Zeit schickt der Unbekannte unaufgefordert Konzepte an die Werbeagentur, die davon finanziell erheblich profitiert. Deshalb hatte sich Mading auf sein erstes persönliches Treffen mit dem kreativen Genie so sehr gefreut – und jetzt ist er ihm scheinbar zum Opfer gefallen.

Nur ein Spiel kommt damit als klassische Mördersuche daher: Während sich der just von einer Wallfahrt an Mariä Himmelfahrt zurückzitierte Assistent Carlo Menzinger (Michael Fitz) darum bemüht, Toczec trotz der wenigen Anhaltspunkte ausfindig zu machen, ermitteln Batic und Leitmayr im familiären und beruflichen Umfeld des Opfers. Und stellen schon bald fest, dass Mading sich in seinem Leben mehr Feinde als Freunde gemacht hat.


LEITMAYR:
Mochten Sie Herrn Mading?

TELWANG:
Niemand mochte Herrn Mading.


Viele Bekannte von Mading hätten ein Mordmotiv gehabt, doch haben diese Tatverdächtigen ebenso auch alle ein Alibi: Der protzige Porsche-Fahrer Telwang hofft auf den Führungsposten in der Agentur, saß zur Tatzeit aber mit seinem Hund im Biergarten. Gunda Laux (Sibylle Canonica, Borowski und die Frau am Fenster) ist gerade auf dem Weg zu Gardasee, um sich von den Erniedrigungen durch ihren Chef und Geliebten zu erholen. 

Madings Schwiegersohn Michael Klaes (Alexander Beyer, Schlaraffenland) litt unter seinem Schwiegervater und wurde von ihm aus der Agentur entlassen. Er macht mit seiner Frau Ellen (Chiara Schoras, Schwarzer Peter) zur Tatzeit gerade Urlaub auf Mallorca. Sie ist zwar der einzige Mensch, den Mading mochte, aber verübelte ihm dessen Umgang mit ihrem Ehemann. Und dann ist da noch Guido Harras (Martin Feifel, Vier Jahre), der ehemalige Geliebte von Madings Gattin Verena, der vor 15 Jahren für deren Unfalltod ins Gefängnis wanderte.

Im üblichen, zu entwirrenden Durcheinander aus Mordverdächtigen mit vermeintlich wasserdichten Alibis konzentrieren sich sowohl die Kommissare als auch die Verdächtigen lange darauf, herauszufinden, wer wohl hinter dem Phantom Stephan Toczec steckt. Regisseur Manuel Siebenmann (Ein mörderisches Märchen) erlaubt uns dabei Einblicke, die die Ermittler nicht erhalten – aber ein paar Verhöre und Verfolgungsjagden später wird auch Batic und Leitmayr klar, was es mit Toczec auf sich hat. Temporeich gestaltet sich das Ganze aber nur selten – erst als die Mordwaffe einem Verdächtigen in die Hände fällt, nimmt der Krimi Fahrt auf.

Trotz der routinierten Whodunit-Konstruktion erhalten Zuschauende auch keine echte Chance zum Mitraten: Ein Täter oder eine Täterin drängt sich wegen der Alibis nicht auf, und deshalb müssen die Drehbuchautoren Peter Zingler (Bombenstimmung) und Ulli Stephan (Falsche Liebe) am Ende auch eine unerwartete Wendung einbauen, die einer Person entgegen aller Mutmaßungen doch noch die einmalige Gelegenheit für den Mord eröffnet. 

Dass der 40. Fall des Münchner Teams trotzdem keine allzu großen Längen hat, ist vor allem einigen amüsanten Nebenfiguren zu verdanken. Und auch Batic und Leitmayr legen wieder ihre üblichen Neckereien an den Tag: Während der eine Kommissar korrekt Goethe zitiert, aber eine Anspielung auf Don Johnson nicht versteht, geht es dem anderen Kommissar genau umgekehrt. Wer die beiden kennt, der ahnt, wer den Faust gelesen und wer Miami Vice geschaut hat.

Bewertung: 5/10

Wo ist Max Gravert?

Folge: 595 | 17. April 2005 | Sender: HR | Regie: Lars Kraume
Bild: HR/Bettina Müller
So war der Tatort:

Frei von Fromm – aber nicht ganz frei von Schwächen.

Abteilungsleiter Rudi Fromm (Peter Lerchbaumer) befindet sich im 50. Tatort des Hessischen Rundfunks nämlich in der Reha und hat Hauptkommissar Fritz Dellwo (Jörg Schüttauf) zu seinem Stellvertreter auserkoren. Und so dauert es nur wenige Minuten, bis Dellwo zum ersten Mal mit dem ungeduldigen Staatsanwalt Dr. Scheer (Thomas Balou Martin) aneinanderrasselt: Dem geht mal wieder alles zu langsam, während Dellwo keine Lust auf Rechtfertigungen hat. Zu diesem frühen Zeitpunkt fährt der ansonsten angenehm gegen den Strich arrangierte Krimi vorübergehend auf Autopilot: Standardszenen wie diese hat man nicht nur im Frankfurter Tatort schon zur Genüge gesehen.

Das langweilt. Doch ansonsten löst sich der zweite Tatort von Regisseur und Drehbuchautor Lars Kraume (Sag nichts) schnell aus dem üblichen Korsett der Sonntagskrimis und stellt schon im Filmtitel die Frage, um die sich alles dreht: Wo ist Max Gravert?

Wir hingegen stellen uns zunächst eine ähnliche Frage, die nach gut zehn Minuten beantwortet wird: Wer ist Max Gravert überhaupt? Nachdem Peter Roth (Rüdiger Klink, Der Tote im Nachtzug) nachts überfallen wurde, bittet er auf dem Revier um Polizeischutz: Beim Wirtschaftsdezernatsbeamten Wittich (Karl Kranzkowski, Mörderspiele), den Dellwos Kollegin Charlotte Sänger (Andrea Sawatzki) von früher kennt, stößt er jedoch auf taube Ohren und liegt am nächsten Morgen erschossen auf der Straße. Roth war in einen moralisch fragwürdigen Zweithandel mit Lebensversicherungen verwickelt, mit dessen Millionenerträgen sich sein vielgesuchter Kollege Max Gravert aus dem Staub gemacht hat.

Was als klassischer Whodunit beginnt, wandelt sich zum spannenden Genremix aus klassischem Krimi, fiebrigem Gangsterthriller und berührendem Krebsdrama. Als Täter infrage kommen nur zwei Personen, die wir bei ihren Streifzügen auch in Abstinenz der Kommissare begleiten dürfen: Die krebskranken Roman Mielcke (Jürgen Vogel, Der wüste Gobi) und Tom Novak (Tom Schilling, Auskreuzung) haben nur noch Monate zu leben und wurden von Gravert um ihr Geld gebracht. Nun gehen sie über Leichen, um den Flüchtigen aufzuspüren. Die beiden haben nichts mehr zu verlieren, aber eine letzte Rechnung offen.


MIELCKE:
Ich fühle mich wie früher in der Schule, wenn man schon Monate vorher wusste, dass man sitzen bleibt. Und alle anderen noch fleißig lernen und ihre Arbeiten schreiben. So fühle ich mich. Wie einer, der nicht mehr mitkommt.

SÄNGER:
Aber dafür kann Max Gravert doch nichts.

MIELCKE:
Nee. Aber er hätte mir auch nicht mein Taschengeld klauen müssen.


Die Jagd auf Mielcke und Nowak, die in einen fiebrigen Maisfeld-Showdown mündet, ist die größte Stärke des Krimis und dabei angenehm vielschichtig erzählt: Trotz ihres brutalen Vorgehens sind Mielcke und Novak keine typischen Bösewichte, die das TV-Publikum mit blutigen Taten gegen sich aufbringen. Vielmehr weckt ihre Verzweiflung Verständnis für ihr Verhalten. Auch der gesuchte Max Gravert ist nicht der gierige Scharlatan, der er einleitend zu sein scheint: Er wollte die gestohlenen Millionen nicht etwa für sich, sondern zur Rettung der Firma seines Bruders Ulf Gravert (der spätere Polizeiruf-110-Kommissar Matthias Matschke in einer Doppelrolle).

Dass Graverts Pharma-Unternehmen pikanterweise in der Krebsforschung tätig ist, rundet das Bild tragisch ab: Die Filmemacher setzen nicht auf dünne Schwarz-Weiß-Malerei und einen simplen Konflikt zwischen geprellten Opfern und skrupellosen Geschäftemachern, sondern arbeiten die Grautöne mit feinem Gespür heraus. Auch die krebskranke Julia Steiner (stark: Bernadette Heerwagen, Sonne und Sturm), die Dellwo in seinem neuen Haus auf dem Land besucht, ist nicht die durch und durch sympathische Zeitgenossin, für die wir sie anfangs halten mögen. Mit Kopftuch auf dem schütteren Haar fliegt ihr unser Mitleid förmlich zu, wenn sie mit Dellwo Led-Zeppelin-Songs zelebriert und ihm beklemmende Einblicke in ihr Seelenleben gestattet – bis sie Absichten offenbart, die Sprengstoff bergen.

Auch zwischen Dellwo und Sänger kracht es im 595. Tatort mehrfach, wenngleich die Filmemacher den von Misstrauen geprägten Konflikt (noch) nicht auf die Spitze treiben: Wo ist Max Gravert? ist sehr auf Dellwo fixiert und landet mit Blick auf Frankfurter Hochkaräter wie Herzversagen oder Weil sie böse sind im oberen Mittelfeld dieses Teams. Die Streitereien der Ermittler werden am Rande erzählt. Charlotte Sänger, sonst oft das emotionale Epizentrum in Mainhattan, erhält erst auf der Zielgeraden des Krimis größeren Entfaltungsspielraum.

Wenngleich überraschende Wendungen im Drehbuch ausbleiben und die Dramaturgie ausrechenbar ist, ist der siebte Sänger-und-Dellwo-Fall unterm Strich gelungen – und das liegt auch am hervorragenden Cast. Neben dem markanten Jürgen Vogel, dem fabelhaften Tom Schilling und dem etwas unauffälligeen Matthias Matschke zählt auch der gewohnt grandiose HR-Stammgast Justus von Dohnányi (Wer bin ich?) in einer Nebenrolle als Bankier Karl Brockhorst zum Personal.

Bewertung: 7/10

Todesbrücke

Folge: 591 | 13. März 2005 | Sender: rbb | Regie: Christine Hartmann
Bild: rbb/A. Plehn
So war der Tatort:

Kinderfixiert. 

Schon der Arbeitstitel der 591. Tatort-Folge lautete Kinderspiele, und das kommt nicht von ungefähr: Die lieben Kleinen kommen hier gleich im Rudel vor. Gleich zu Beginn werfen drei Halbstarke Wasserballons von einer Autobahnbrücke – und einer davon trifft ausgerechnet das Auto der Berliner Hauptkommissare Till Ritter (Dominic Raacke) und Felix Stark (Boris Aljinovic), der vor Schreck fast einen Unfall baut. 

Kurze Zeit später stirbt der Insolvenz-Verwalter Thomas Franke (Patrick Braun, Unter Uns) an exakt derselben Stelle, der titelgebenden Todesbrücke, nachdem ein Ziegelstein seine Windschutzscheibe getroffen hat und er von der Straße abgekommen ist. Seine schwangere Frau Eva (Isabella Parkinson, Blutdiamanten) verdächtigt ihren Nachbarn Klaus Reling (Herbert Trattnigg, Borowski und der freie Fall): Der hatte das Ehepaar Franke mit zahlreichen Klagen aus den kleinlichsten Gründen terrorisiert. Auch Ritter und Stark gehen die "Ich verklage Sie!"- und "Ich kenne meine Rechte"-Sprüche bei der Befragung schnell auf die Nerven. 

Dann gibt es ein zweites Opfer: Frankes Chefin Sybille Bohrmann (Christine Reinhart) wird auf dieselbe Art und Weise getötet wie ihr Kollege. Ihr Exmann Manfred (Florian Martens, Mordfieber) nimmt daraufhin die gemeinsamen Kinder Lucas (Richard Becker, Stirb und werde) und Anna (Nicole Mercedes Müller, Mia san jetz da wo's weh tut) in seine Obhut – eine Situation, die Kommissar Stark gut nachvollziehen kann: Seine Exfrau Louisa möchte mit dem gemeinsamen Sohn Sebastian (Martin Aaron Müseler) und ihrem neuen Freund Urlaub in Australien machen. 

Stark befürchtet, dass sie diese sechs Wochen nutzen wird, um die Gunst des Jungen zu gewinnen - und um dem entgegenzuwirken, lässt er keine Gelegenheit aus, seine Qualitäten als Vater und Hausmann unter Beweis zu stellen.


STARK:
Ich möchte meinen Sohn abholen, den ich seit 14 Stunden nicht gesehen habe, und mich um ihn kümmern, damit er nicht irgendwann auf einer Brücke steht und Unfug macht. Sollten Sie was dagegen haben, dann sagen Sie es ruhig, aber ändern wird es nichts. Muss das hier gewaschen werden?

RITTER: 
Ich wollte nachher noch zum Waschsalon, ja.

STARK:
Ist morgen fertig.


Dieser private Nebenkriegsschauplatz passt zwar gut zum Fall, ist auf Dauer aber recht ermüdend: Immer wieder betont Stark, dass er Sebastian abholen müsse, er nicht genug Zeit für ihn habe und es unfair sei, dass seiner Ex-Frau der Alltag mit dem Jungen erspart bliebe. Das mag schmerzlich realistisch sein, bremst die Krimihandlung jedoch aus. 

Ohnehin ist der 12. gemeinsame Fall des Berliner Teams einer der langweiligeren Sorte: Selbst bei der obligatorischen Verfolgungsjagd am Ende will keine Spannung aufkommen, weil der Ausgang zu offensichtlich ist. 

Der enttäuschende Showdown ist zugleich ein Paradebeispiel für den größten Schwachpunkt im Drehbuch von Frauke Hunfeld (Tödliche Häppchen): Die komplette Handlung – Täter und Tatmotiv eingeschlossen – ist zu vorhersehbar. Man wartet stets auf eine interessante Wendung, die aber nie eintritt. 

Hinzu kommt die Tatsache, dass die meisten Zuschauer den Kommissaren meilenweit voraus sein dürften, was die Spannung schmälert: Nach der etwas bemüht wirkenden Sequenz, in der Ritter mit Kriminalrat Wiegand (Veit Stübner) und dem Assistenten Lutz Weber (Ernst-Georg Schwill) den kreativen Mordanschlag nachstellt, kommen die drei zu einer wegweisenden Erkenntnis bei der Suche nach der Auflösung – doch die Ermittler schließen daraus etwas völlig anderes und ermitteln eine ganze Weile in die falsche Richtung. 

Doch es gibt in diesem unterdurchschnittlichen Tatort von Regisseurin Christine Hartmann (Türkischer Honig) auch Lichtblicke: Herbert Trattnigg spielt den streitbaren Nachbarn Klaus Reling herrlich unsympathisch und arrogant, und auch die jungen Darsteller überzeugen mit einer Mischung aus naiven, witzigen Kommentaren und kindlicher Spielfreude.

Die Besetzung der achtjährigen Anna Bohrmann ist beim Blick auf die spätere Tatort-Geschichte besonders interessant: Nebendarstellerin Nicole Mercedes Müller ist acht Jahre später in Nick-Tschiller-Debüt Willkommen in Hamburg und 2015 im Münchner Krimidrama Mia san jetz da wo's weh tut als Hauptdarstellerin wieder in der Krimireihe mit von der Partie. 

Während im Tatort ansonsten oft bemängelt wird, dass Privatgeschichten der Kommissare zu ausführlich illustriert werden, wäre das in Todesbrücke an mancher Stelle sinnvoll gewesen, denn Starks Suche nach einer Babysitterin muss zum Beispiel als humoristische Auflockerung herhalten: Auf die mäßig amüsante Kandidatin Mandy (Doreen Dietel, Tödliche Freundschaft), die deutlich mehr Interesse an Ritter als an ihrem zukünftigen Job zeigt, folgt die zweite Anwärterin Sandy – wie originell. 

Ritters private Momente hingegen beschränken sich auf Schwärmereien für leckere Bagel, Feierabendbierchen mit Verdächtigen und die Versuche, seinem Kollegen die Telefonnummer von Mandy zu entlocken – ein Handlungsschlenker, der genauso vorhersehbar ist wie der Rest dieses lauen Krimis.

Bewertung: 4/10

Schürfwunden

Folge: 589 | 13. Februar 2005 | Sender: WDR | Regie: Niki Stein
Bild: WDR/Thekla Ehling
So war der Tatort:

Wie ausgestorben.

Zumindest auf den ersten Blick, denn die Kölner Hauptkommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) verschlägt es bei ihrem 30. gemeinsamen Einsatz in eine Art Geisterstadt: Das ebenso beschauliche wie fiktive Örtchen Schaffrath (Drehort war Otzenrath) wird nämlich umgesiedelt, weil es im rheinischen Braunkohlerevier liegt und die mittlerweile zu großen Teilen leerstehenden Häuser der Bergbaugesellschaft im Wege stehen. Aus Schaffrath wird ein paar Kilometer weiter einfach Neu-Schaffrath.

Auf den zweiten Blick ist der Ort allerdings nicht so verlassen, wie es zunächst den Anschein hat: Die Schule im neuen Ort ist noch nicht fertig, so dass Dutzende Schüler in die Geisterstadt pendeln müssen, und auch die Betreiberin der Dorfwirtschaft weigert sich hartnäckig, ihre nach wie vor gut besuchte Kneipe zu verlassen. Alice Rausch (Anna Schudt, von 2012 bis 2022 als Tatort-Kommissarin Martina Bönisch in Dortmund zu sehen) muss sich schließlich um ihre betagte Mutter (Christa Strobel, Schattenlos) kümmern, die die Wohnung über dem Lokal bewohnt und ebenfalls nicht gewillt ist, den Ort zu verlassen. 

Aber was verschlägt zwei Kölner Kripo-Beamte überhaut in diese Provinz? Ballauf und Schenk, die in Schaffrath schnell auf den Dorfpolizisten Gernot Ackermann (Stephan Kampwirth, Hubertys Rache) treffen, haben erst kürzlich in einem anderen Mordfall ermittelt: Beim Überfall auf einen Geldtransporter wurde ein Wachmann erschossen. Der Täter, der offenbar noch einen Komplizen hatte, ist mittlerweile tot: Assistentin Franziska Lüttgenjohann (Tessa Mittelstaedt) kommt in Schürfwunden die undankbare Aufgabe zu, einen postmortal abgetrennten Finger aus der Präsidiumspost zu fischen, den Gerichtsmediziner Dr. Roth (Joe Bausch) schnell dem Raubmörder zuordnet. Abgeschickt wurde der Brief in Schaffrath. 

Um herauszufinden, ob dort auch die Leiche liegt, machen sich die beiden Großstadtbullen zur Lösung der klassischen Whodunit-Konstruktion ins Braunkohlerevier auf – doch nicht etwa in einem der zahlreichen amerikanischen Straßenkreuzer, die Freddy Schenk in mehreren Tatort-Jahrzehnten durch die Domstadt bewegt. Weil kein anderer Dienstwagen zur Verfügung steht, müssen die beiden sich in einen Ford Fiesta quetschen und auf der Fahrt in gemäßigtem Tempo sogar von einem LKW überholen lassen. Die Stimmung ist entsprechend gereizt.


SCHENK:
Sag mal, hast du dir mal ausgerechnet, wie viele Überstunden bei dir angefallen sind in all den Jahren?

BALLAUF:
Keine Ahnung, weiß ich nicht!

SCHENK:
Ja, dachte ich mir. Bei mir sind's 4.569. Das sind exakt 114,25 Wochen. So. Das heißt, ich könnte zwei Jahre und drei Monate lang frei nehmen, bei vollem Lohnausgleich. Aber uns den Dienstwagen streichen!


Schon die Einstiegssequenz in den nach konventionellen Mustern gebauten Krimi gibt die Gangart vor: Regisseur Niki Stein (Das Böse), der mit Frank Posiadly auch das Drehbuch zu seinem achten Tatort schrieb, setzt auf eine temporeiche Inszenierung, hektische Kameraschwenks und reichlich Emotionen. Alles ein wenig dick aufgetragen, alles ein bisschen drüber, aber stets unterhaltsam. Ehe Ballauf und Schenk nach Schaffrath fahren, ereifern sie sich vor Gericht und müssen missmutig und machtlos mitansehen, wie die mutmaßliche Komplizin des Raubmörders straffrei bleibt, um danach von Oberstaatsanwalt von Prinz (Christian Tasche) in die Schranken gewiesen zu werden. 

Ein typischer Kölner Tatort-Moment, von denen es viele weitere gibt – nur der später immer stärker in die Drehbücher Einzug haltende Betroffenheitskitsch bleibt in diesem Krimi erfreulicherweise außen vor. Denn anders, als man vermuten sollte, beschäftigen sich die Filmemacher gar nicht näher mit der Frage, was das eigentlich für Menschen bedeutet, wenn man ihnen die Heimat buchstäblich unter den Füßen wegreißt und sie in ein seelenloses Neubaugebiet verfrachtet. Allen Grubenpanoramen zum Trotz könnte der Film genauso gut in einem anderen Provinznest spielen, in dem jeder jeden kennt und man bereits schräg angeschaut wird, wenn man sich wie der von seiner Frau Ellen (Johanna Gastdorf, Sonne und Sturm) getrennt lebende Metzgermeister Sigi Lensen (Dieter Brandecker) mit einer Asiatin (Moon Suk, Sechs zum Essen) einlässt.

Manches an der geradlinigen Geschichte wirkt zu geplant und durchchoreographiert; die umtriebige Teenie-Tramperin Tatjana Rausch (Karoline Teska, Leiden wie ein Tier) etwa springt pausenlos in irgendwelche Autos, die zufällig immer dann neben ihr anhalten, wenn sie gerade eine Mitfahr- oder Fluchtgelegenheit braucht. Durch den aufdringlichen, trashigen Dudel-Soundtrack durchzieht den 589. Tatort auch ein gewisser B-Movie-Touch. Und dass der einfältige Metzgersohn Hansi Lensen (Jona Mues, Todesbande) nicht die hellste Kerze auf der Torte ist, hätten wir auch ohne seine albernen, aschenbecherdicken Brillengläser registriert. Nicht alle Handlungsmanöver der Tatverdächtigen wirken schlüssig. Echte Tiefe gewinnt keiner der Charaktere, vielleicht sind es einfach ein paar Nebenfiguren zu viel.

Die pfiffige Auflösung der Täterfrage halten die Filmemacher bis zum bleihaltigen Wild-West-Finale vor spektakulärer Grubenkulisse offen. Ansonsten bleibt neben dem eindrucksvollen Tagebausetting vor allem ein köstlicher Running Gag um eine vermeintliche Portion Hirsch-Cevapcici in Erinnerung, die Freddy Schenk in diesem Tatort mehrfach auf den Magen schlägt. Ballauf muss indes registrieren, dass er nicht für eine eigene Wohnung und ein eigenes Sofa gemacht ist – und so ist nach diesem Tatort-Exkurs dann doch wieder alles beim Alten.

Bewertung: 6/10

Dunkle Wege

Folge: 586 | 16. Januar 2005 | Sender: NDR | Regie: Christiane Balthasar
Bild: NDR/Marion von der Mehden
So war der Tatort:

Disharmonisch.

Zugegeben, das wäre mit Blick auf die Krimireihe nicht unbedingt eine Erwähnung wert – man denke nur an Hauptkommissar Peter Faber (Jörg Hartmann) und sein Team aus dem Dortmunder Tatort, in dem seit dem ersten Einsatz im Jahr 2012 (in Alter Ego) regelmäßig die Fetzen fliegen. 

Doch die Häufigkeit und Vehemenz, mit der beim sechsten Tatort der niedersächsischen LKA-Ermittlerin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) gestritten, verheimlicht, gelogen und hintergangen wird, ist dann doch bemerkenswert. Beispiel gefällig? Bitte sehr: Selbst die diensthabende und sichtlich mitgenommene Pathologin (Gilla Cremer, Wenn Frauen Austern essen) lässt bei der obligatorischen Leichenschau im Gespräch mit der Hauptkommissarin aus Hannover ordentlich Dampf ab.


LINDHOLM:
Kannten Sie den Toten?

PATHOLOGIN:
Nein, nein. Tschuldigung. Mein Mann hat heute Morgen die Scheidung eingereicht. Wegen so einer jungen, blonden Pissnelke.


Exemplarisch für die in der 586. Tatort-Folge fast durchgängig herrschende Disharmonie steht der jahrgangsbeste Polizeischüler und Auftakttote Gerd Lähner (Jan Christoph Pohl in seiner ersten TV-Rolle überhaupt), der sich im Zuge seiner Ausbildung an der Landespolizeischule Niedersachsen offenbar mit jedem und jeder angelegt hat und nicht gerade als Everybody's Darling galt. 

Einleitend werden wir Zeugen, wie er während einer Übung von seinen Mitschülern Michael Bronner (Christian Blümel, Kaltes Herz), Lothar Grammert (Martin Kiefer, Heimatfront) und Birgit Wels (Lale Yavas, zwischen 2006 und 2012 als Pathologin Dr. Rhea Singh im Tatort aus Saarbrücken zu sehen) verprügelt und kurz darauf tot aufgefunden wird. Die Kamera ist bei diesem Mord allerdings nicht mehr dabei – wer also hat den integren Musterschüler, der zahlreiche Verweise seiner Kommilitonen zu verantworten hatte, auf dem Gewissen?

Die eigentlich noch im Urlaub weilende Lindholm wird mit der Klärung dieser Frage betraut und deshalb nach Hannoversch Münden zitiert. Nach anfänglichem Zögern stimmt sie zu, sich als Dozentin in die Landespolizeischule einzuquartieren und innerhalb der Schülerschaft verdeckt zu ermitteln. Das ist auch bitter nötig, denn abgesehen von Sandra Wiegand (Katharina Schüttler, Bombenstimmung), der das Opfer kurz vor seinem Ableben das Herz gebrochen hatte, machen die angehenden Gesetzeshüter – darunter auch der ehrgeizige Malte Brüning (zum Zeitpunkt der Erstausstrahlung noch eher unbekannt: Hanno Koffler, Bausünden) – keineswegs den Eindruck, den Tod ihres Mitschülers durch konstruktive Mitarbeit aufklären zu wollen.

Vielmehr hat man in diesem Mikrokosmos der Lehreinrichtung das Gefühl, dass so ziemlich jeder etwas zu verbergen hat und alle nur gegenseitig mit dem Finger aufeinander zeigen. Selbst der nach Außen so korrekt und diszipliniert wirkende Übungsleiter Döring (Arnd Klawitter, Wolfsstunde) bildet keine Ausnahme und wird von Lindholm bei der Durchsuchung von Lähners Zimmer auf frischer Tat ertappt. Einmal mehr stellt sich die Frage nach der Darstellung von Polizeicharakteren und ihrem moralischen Kompass im Tatort, denn einmal mehr kommen sie alles andere als gut weg.

Lindholms Ermittlungen erweisen sich als zäh und konzentrieren sich lange auf Grammert und Bronner. Sie haben sich fatalerweise auf die illegalen Machenschaften des skrupellosen Autohausbesitzers Sellner (Peter Jordan, mimte von 2008 bis 2012 den Cenk-Batu-Vorgesetzten Uwe Kohnau im Tatort aus Hamburg) eingelassen. Die Drehbuchautoren Susanne Schneider (Blutsbande) und Thorsten Näter (Abschaum) widmen diesem reizvollen Handlungsstrang, der in einer dramatischen Aktion auf einem Weserdampfer gipfelt, viel Zeit, doch birgt das einen Wermutstropfen: Durch den Fokus auf die beiden Polizeischüler bleiben die anderen Figuren auf der Strecke. Erst im letzten Filmdrittel bekommen sie noch schnell mögliche Mordmotive mit der Brechstange aufgedrückt. Das lässt die Glaubwürdigkeit zusätzlich bröckeln und erschwert das Miträtseln, da der Täter und seine Beweggründe nur oberflächlich beleuchtet werden.

Und Lindholm? Die befindet sich diesmal auch privat in einer verzwickten Lage. Die Filmemacher spinnen die im soliden Vorgänger Märchenwald begonnene Affäre mit ihrem Verehrer Tobias Endres (Hannes Jaenicke, Der rote Schatten) weiter und die beiden dürfen sich diesmal sogar beruflich begegnen. Das birgt zusätzliche Spannungen, wirkt aber – der gekonnten Inszenierung von Christiane Balthasar (Salzleiche) sei dank – nie zu aufgesetzt oder befremdlich. Im Gegenteil: In Kombination mit Lindholms treu ergebenem Mitbewohner Martin Felser (Ingo Naujoks) entwickelt sich eine wunderbar leichte Ménage-à-trois, die nicht nur für die angenehm witzigen Momente in dieser Tatort-Folge sorgt, sondern der Figur Felsers auch endlich etwas mehr Kontur verleiht – wenn auch nur einmalig.

Bewertung: 5/10