Schürfwunden

Folge: 589 | 13. Februar 2005 | Sender: WDR | Regie: Niki Stein
Bild: WDR/Thekla Ehling
So war der Tatort:

Wie ausgestorben.

Zumindest auf den ersten Blick, denn die Kölner Hauptkommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) verschlägt es bei ihrem 30. gemeinsamen Einsatz in eine Art Geisterstadt: Das ebenso beschauliche wie fiktive Örtchen Schaffrath (Drehort war Otzenrath) wird nämlich umgesiedelt, weil es im rheinischen Braunkohlerevier liegt und die mittlerweile zu großen Teilen leerstehenden Häuser der Bergbaugesellschaft im Wege stehen. Aus Schaffrath wird ein paar Kilometer weiter einfach Neu-Schaffrath.

Auf den zweiten Blick ist der Ort allerdings nicht so verlassen, wie es zunächst den Anschein hat: Die Schule im neuen Ort ist noch nicht fertig, so dass Dutzende Schüler in die Geisterstadt pendeln müssen, und auch die Betreiberin der Dorfwirtschaft weigert sich hartnäckig, ihre nach wie vor gut besuchte Kneipe zu verlassen. Alice Rausch (Anna Schudt, von 2012 bis 2022 als Tatort-Kommissarin Martina Bönisch in Dortmund zu sehen) muss sich schließlich um ihre betagte Mutter (Christa Strobel, Schattenlos) kümmern, die die Wohnung über dem Lokal bewohnt und ebenfalls nicht gewillt ist, den Ort zu verlassen. 

Aber was verschlägt zwei Kölner Kripo-Beamte überhaut in diese Provinz? Ballauf und Schenk, die in Schaffrath schnell auf den Dorfpolizisten Gernot Ackermann (Stephan Kampwirth, Hubertys Rache) treffen, haben erst kürzlich in einem anderen Mordfall ermittelt: Beim Überfall auf einen Geldtransporter wurde ein Wachmann erschossen. Der Täter, der offenbar noch einen Komplizen hatte, ist mittlerweile tot: Assistentin Franziska Lüttgenjohann (Tessa Mittelstaedt) kommt in Schürfwunden die undankbare Aufgabe zu, einen postmortal abgetrennten Finger aus der Präsidiumspost zu fischen, den Gerichtsmediziner Dr. Roth (Joe Bausch) schnell dem Raubmörder zuordnet. Abgeschickt wurde der Brief in Schaffrath. 

Um herauszufinden, ob dort auch die Leiche liegt, machen sich die beiden Großstadtbullen zur Lösung der klassischen Whodunit-Konstruktion ins Braunkohlerevier auf – doch nicht etwa in einem der zahlreichen amerikanischen Straßenkreuzer, die Freddy Schenk in mehreren Tatort-Jahrzehnten durch die Domstadt bewegt. Weil kein anderer Dienstwagen zur Verfügung steht, müssen die beiden sich in einen Ford Fiesta quetschen und auf der Fahrt in gemäßigtem Tempo sogar von einem LKW überholen lassen. Die Stimmung ist entsprechend gereizt.


SCHENK:
Sag mal, hast du dir mal ausgerechnet, wie viele Überstunden bei dir angefallen sind in all den Jahren?

BALLAUF:
Keine Ahnung, weiß ich nicht!

SCHENK:
Ja, dachte ich mir. Bei mir sind's 4.569. Das sind exakt 114,25 Wochen. So. Das heißt, ich könnte zwei Jahre und drei Monate lang frei nehmen, bei vollem Lohnausgleich. Aber uns den Dienstwagen streichen!


Schon die Einstiegssequenz in den nach konventionellen Mustern gebauten Krimi gibt die Gangart vor: Regisseur Niki Stein (Das Böse), der mit Frank Posiadly auch das Drehbuch zu seinem achten Tatort schrieb, setzt auf eine temporeiche Inszenierung, hektische Kameraschwenks und reichlich Emotionen. Alles ein wenig dick aufgetragen, alles ein bisschen drüber, aber stets unterhaltsam. Ehe Ballauf und Schenk nach Schaffrath fahren, ereifern sie sich vor Gericht und müssen missmutig und machtlos mitansehen, wie die mutmaßliche Komplizin des Raubmörders straffrei bleibt, um danach von Oberstaatsanwalt von Prinz (Christian Tasche) in die Schranken gewiesen zu werden. 

Ein typischer Kölner Tatort-Moment, von denen es viele weitere gibt – nur der später immer stärker in die Drehbücher Einzug haltende Betroffenheitskitsch bleibt in diesem Krimi erfreulicherweise außen vor. Denn anders, als man vermuten sollte, beschäftigen sich die Filmemacher gar nicht näher mit der Frage, was das eigentlich für Menschen bedeutet, wenn man ihnen die Heimat buchstäblich unter den Füßen wegreißt und sie in ein seelenloses Neubaugebiet verfrachtet. Allen Grubenpanoramen zum Trotz könnte der Film genauso gut in einem anderen Provinznest spielen, in dem jeder jeden kennt und man bereits schräg angeschaut wird, wenn man sich wie der von seiner Frau Ellen (Johanna Gastdorf, Sonne und Sturm) getrennt lebende Metzgermeister Sigi Lensen (Dieter Brandecker) mit einer Asiatin (Moon Suk, Sechs zum Essen) einlässt.

Manches an der geradlinigen Geschichte wirkt zu geplant und durchchoreographiert; die umtriebige Teenie-Tramperin Tatjana Rausch (Karoline Teska, Leiden wie ein Tier) etwa springt pausenlos in irgendwelche Autos, die zufällig immer dann neben ihr anhalten, wenn sie gerade eine Mitfahr- oder Fluchtgelegenheit braucht. Durch den aufdringlichen, trashigen Dudel-Soundtrack durchzieht den 589. Tatort auch ein gewisser B-Movie-Touch. Und dass der einfältige Metzgersohn Hansi Lensen (Jona Mues, Todesbande) nicht die hellste Kerze auf der Torte ist, hätten wir auch ohne seine albernen, aschenbecherdicken Brillengläser registriert. Nicht alle Handlungsmanöver der Tatverdächtigen wirken schlüssig. Echte Tiefe gewinnt keiner der Charaktere, vielleicht sind es einfach ein paar Nebenfiguren zu viel.

Die pfiffige Auflösung der Täterfrage halten die Filmemacher bis zum bleihaltigen Wild-West-Finale vor spektakulärer Grubenkulisse offen. Ansonsten bleibt neben dem eindrucksvollen Tagebausetting vor allem ein köstlicher Running Gag um eine vermeintliche Portion Hirsch-Cevapcici in Erinnerung, die Freddy Schenk in diesem Tatort mehrfach auf den Magen schlägt. Ballauf muss indes registrieren, dass er nicht für eine eigene Wohnung und ein eigenes Sofa gemacht ist – und so ist nach diesem Tatort-Exkurs dann doch wieder alles beim Alten.

Bewertung: 6/10

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