Wer bin ich?

Folge: 968 | 27. Dezember 2015 | Sender: HR | Regie: Bastian Günther
Bild: HR/Kai von Kröcher
So war der Tatort:

Selbstreflexiv.

Der fünfte Fall von LKA-Kommissar Felix Murot (Ulrich Tukur) ist strukturell die bis dato außergewöhnlichste Tatort-Folge aller Zeiten – denn was der Hessische Rundfunk in diesem Meisterwerk mit Murot und seiner Kollegin Magda Wächter (Barbara Philipp) veranstaltet, sucht in der Geschichte der Krimireihe seinesgleichen.

Bastian Günthers Wer bin ich? ist kein Tatort im eigentlichen Sinne, sondern eine pfiffige, vor Selbstironie nur so triefende Film-im-Film-Konstruktion, eine clevere Satire, in der sich nicht nur Tukur und Philipp, sondern auch drei weitere Tatort-Schauspieler selbst spielen dürfen.

Die Rahmenhandlung um zwei Tote in einem Parkhaus spielt schon nach wenigen Minuten keine Rolle mehr: Nachdem Murot die Leichen gefunden hat, blickt der Zuschauer auf einmal hinter die Kamera – mitten ins Tatort-Set. Dort gönnt sich der verkaterte Tukur, der sich ab sofort selbst spielt, gemeinsam mit der Leiche einen Kaffee am Catering-Stand und muss kurz darauf feststellen, wie man sich als Tatverdächtiger fühlt: Auch der Assistent des Aufnahmeleiters wurde ermordet, und Tukur kann gegenüber den argwöhnischen Polizisten Kugler (Sascha Nathan, Hinter dem Spiegel) und Kern (Yorck Dippe) kein Alibi für die Tatnacht vorweisen.

In der Folge entwickelt sich ein mit erfrischenden Ideen und köstlichen Anspielungen nur so gespickter, fiktiver Blick hinter die Kulissen des Filmemachens, bei dem Tukur unter anderem seinem Kollegen Wolfram Koch aus dem Frankfurter Tatort begegnet: Der entpuppt sich als egozentrische Diva und macht sich den ganzen Tag darüber Gedanken, wie er die Waffe vor der Kamera wohl am coolsten hält. Und quartiert sich trotz seines Frankfurter Wohnsitzes im Hotel ein, um dort im Bademantel junge Damen vom Zimmerservice zu empfangen.


KOCH:
Zahlt doch alles der Sender!


Wer bin ich? ist nach der tollen Krimi-Groteske Das Dorf und der fantastischen Italo-Western-Theater-Oper Im Schmerz geboren der nächste herausragende Beitrag aus Wiesbaden, an dem sich die Geister geradezu scheiden müssen.

Der Spaß an diesem einmaligen TV-Experiment ist allen Beteiligten anzumerken: Die HR-Redakteure Jörg Himstedt und Liane Jessen werden zu Jens Hochstätt (Michael Rotschopf, Eine Frage des Gewissens) und Inge Janssen (Caroline Schreiber, Müll), und sie hätten mit Matthias Schweighöfer oder Heino Ferch natürlich Nachfolgelösungen im Petto, wenn ihr gut bezahlter Hauptdarsteller Tukur wirklich Dreck am Stecken haben sollte.

Anders als im Tatort aus Münster, in dem sich die Albernheiten allein aus den Figuren ergeben, resultiert der extrem hohe Unterhaltungswert dieser Krimi-Satire aus pointierten Dialogen, köstlicher Situationskomik und subtilen Anspielungen – zum Beispiel dann, wenn Tukur beim letzten Verhör wie selbstverständlich aus einer stilechten Tatort-Tasse trinken soll. Und wenn Tukur als Tukur Tukur als Murot begegnet, weht sogar ein Hauch von Fight Club durch den Film. Ab und an ist der Grat zwischen Selbstironie und Selbstverliebtheit allerdings schmal: Während im Schneideraum ein Im Schmerz geboren-Poster hängt, zappt sich Tukur auf dem Hotelzimmer durch den berühmten Tanz der Kessler-Zwillinge.

Neben Tukur, Philipp und Koch dürfen sich auch dessen Frankfurter Tatort-Kollegin Margarita Broich und Martin Wuttke, der in Niedere Instinkte letztmalig als Leipziger Hauptkommissar Andreas Keppler zu sehen war, selbst spielen: Während Broich am Set des eigenen Tatort-Drehs rumzickt, weil ihr Leinwandpartner im größeren Wohnwagen hausen darf, steht Wuttke nach seiner Entlassung durch den MDR vor der Privatinsolvenz und muss sich in schlechten Dialogen als Nebendarsteller verdingen. Es ist ein urkomischer, vielleicht sogar Wuttkes bester Tatort-Auftritt.

Auch Justus von Dohnányi, der bei Das Dorf und Schwindelfrei Regie führte, stiehlt  als exzentrischer Regisseur mit Vorliebe für Biergulasch jede Szene. Schnell entlarven die Filmemacher Tukurs Kollegen als falsche Fuffziger, die Neid und Missgunst durch vordergründiges Duzen und Küsschen überspielen – und auch die quotenstarke Tatort-Konkurrenz aus Westfalen bekommt in diesem hochunterhaltsamen Meilenstein der Tatort-Geschichte ihr Fett weg.


REGISSEUR:
Wir sind hier doch nicht in Münster!


Bewertung: 10/10

Benutzt

Folge: 967 | 26. Dezember 2015 | Sender: WDR | Regie: Dagmar Seume
Bild: WDR/Thomas Kost
So war der Tatort:

Formelhaft.

Einen Tag bevor der Hessische Rundfunk sich anschickt, die Krimireihe mit seiner gewagten Film-im-Film-Konstruktion Wer bin ich? einmal mehr neu zu erfinden, und sechs Tage bevor Til Schweiger und Helene Fischer im Action-Feuerwerk Der große Schmerz die Kugeln fliegen lassen, liefert der WDR den Zuschauern einen Krimi der alten Schule: Benutzt ist ein sehr klassisch gestrickter Tatort, bei dem all jene Abläufe im Mittelpunkt stehen, denen der Tatort seine große Fangemeinde verdankt: ein Leichenfund zum Auftakt, ein halbes Dutzend Verdächtiger und der typische Mix aus Ermittlungen der Kommissare, Fleißarbeit der Assistenten und Erkenntnissen der Spurensicherung.

Drehbuchautor Jens Maria Merz, für den das Genre ebenso Neuland ist wie für Regisseurin Dagmar Seume, reiht eine gute Stunde lang die erfolgserprobten Standardmomente aneinander: Da dürfen natürlich auch ein arroganter Winkeladvokat – hier: Rechtsanwalt von Karstdorff (Gerrit Jansen) – und eine Verfolgungsjagd nicht fehlen, die diesmal durch ein Hotel führt und eher unspektakulär ausfällt. Auch der Zwischenstopp an der Wurstbraterei fällt aus: Die Kölner Hauptkommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) verzehren ihre Currywurst im Dienstwagen, doch das Ersatzprodukt der Konkurrenz kann natürlich nicht mit dem Stamm-Imbiss am Rheinufer mithalten ("Ich weiß nicht, das kann man nicht essen!").

Gerichtsmediziner Dr. Roth (Joe Bausch) wird derweil von Kollegin Anke Schleiche (Alexandra von Schwerin, Im Schmerz geboren) vertreten, deren Nachname sich kaum zufällig auf "Leiche" reimt und die ihre Sache recht ordentlich macht. Schleiche ist es dann auch, die den Kommissaren bei der einleitenden Tatort-Besichtigung erste Hinweise auf den Täter liefert: Nachdem Exportberater Martin Lessnik (Jens Babiak) tot aus dem Rhein gezogen wurde, führt die Spur wie schon in den vorherigen drei Tatort-Folgen (vgl. LU, Einmal wirklich sterben, Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes) in die Vergangenheit.

Lessnik hatte einst mit seinem Geschäftspartner Karsten Holler (Christian Seichter) eine Motorradtour durch die Sahara unternommen. Letzterer war dabei spurlos verschwunden und wurde später offiziell für tot erklärt – und auf einem Schweizer Nummernkonto gingen ein paar Millionen Euro ein.

Eine gute Stunde lang hangeln sich Ballauf und Schenk recht mühsam von Befragung zu Befragung, vernehmen Hollers Ex-Frau Sarah (Dorka Gryllus, Schwindelfrei) sowie seine windigen Ex-Geschäftspartner Christian Winter (Thomas Dannemann, Wolfsstunde) und Uwe Gläsgen (Matthias Komm, Mein Revier) – und bald ist klar, dass Holler im Gegensatz zu Lessnik alles andere als tot ist.

Ist die Katze erstmal aus dem Sack, brechen die Filmemacher dann aus den altbekannten Schemata aus: Auf der Suche nach der Auflösung folgen im letzten Filmdrittel doch noch ein paar Wendungen. Nicht jede fällt allerdings glaubwürdig aus: Vor allem der Fund der obligatorischen zweiten Leiche und dessen Auswirkungen auf das Spannungsfeld zwischen den Verdächtigen, zu denen auch die undurchsichtige ZKA-Ermittlerin Kathrin Brandt (Winnie Böwe, Todesschütze) zählt, wirken ziemlich konstruiert.

Benutzt ist dennoch ein solider, wenn auch lange Zeit konventioneller Krimi, der mit einem Novum aufhorchen lässt: Tobias Reisser (Patrick Abozen), der mit Kollegin Sabine Trapp (Anna von Haebler) vom Zollkriminalamt viel Fleißarbeit im Präsidium verrichtet, outet sich als erster schwuler Assistent der über vierzigjährigen Tatort-Geschichte. Seine Ansage fällt angenehm knapp aus – der 967. Tatort ist eben solide Kölner Krimi-Kost, bei der nicht die Charakterzeichnung, sondern die Tätersuche im Vordergrund steht.


REISSER:
Ich find dich wirklich super, echt. Aber kann ich meinen Freund mitbringen?


Bewertung: 5/10

LU

Folge: 966 | 13. Dezember 2015 | Sender: SWR | Regie: Jobst Christian Oetzmann
Bild: SWR/Alexander Kluge
So war der Tatort:

Zickig.

Nicht zum ersten Mal verpasst der SWR seinem Tatort aus Ludwigshafen mit der Brechstange die überfällige Frischzellenkur: Schon im schwachen Vorgänger Roomservice oder dem desaströsen Machwerk Die Sonne stirbt wie ein Tier geriet Hauptkommissarin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) regelmäßig mit Fallanalytikerin Johanna Stern (Lisa Bitter) aneinander – und dieser anstrengende Zickenkrieg erreicht in LU seinen vorläufigen Höhepunkt.

Angesichts der nervtötenden Scharmützel verkommt der Mordfall um einen zurückgekehrten mutmaßlichen Auftragsmörder fast zur Nebensache: Die dienstälteste Tatort-Kommissarin und die blonde Karriere-Mami beschießen sich im Rahmen eines brutal aufgesetzt wirkenden Hauruck-Konflikts 90 Minuten lang mit Giftpfeilen und schenken sich bei den gemeinsamen Ermittlungen kein einziges Lächeln.

Das wird irgendwann selbst Assistentin Edith Keller (Annalena Schmidt) zu viel, die auch in LU wieder mit durchgeschleppt und an vierter Stelle im Cast genannt wird, obwohl sie kaum mehr als drei Sätze sagen darf. Und Mario Kopper (Andreas Hoppe)? Der verkommt zum Sidekick, denn seine einzige Funktion scheint darin zu bestehen, den Dienstwagen zu fahren und zwischen den keifenden Kolleginnen zu vermitteln.

Beim SWR hat man offenbar Gefallen daran gefunden, die Odenthalsche Welt aus den Angeln zu heben und sie die eigenen Vorgehensweisen hinterfragen zu lassen: Prinzipiell kein schlechter Ansatz, doch das Ergebnis wirkt stets bemüht, altbacken und in den seltensten Fällen glaubwürdig. Oder wie es die kecke Charlotte (köstlich: Ex-Dschungelcamp-Bewohnerin Ingrid van Bergen, Rattennest) formuliert:


CHARLOTTE:
Mon Dieu, Kommissarin, an Ihnen hat der Zahn der Zeit aber auch genagt!


Die schlagfertige Rentnerin trifft den Nagel auf den Kopf und ist überhaupt der einzige Lichtblick in diesem über weite Strecken ganz schwachen Tatort. Während die klugscheißende Quasselstrippe Stern das Jugendwort des Jahres 2015 vorlebt und Smartphone und Tablet wahrscheinlich sogar mit ins Bett nimmt, fasst Odenthal nach einer halben Stunde in einem Monolog noch einmal alle Fakten für das weniger aufmerksame Publikum zusammen.

Wäre da mit dem titelgebenden Ludwig "LU" Wolff (Jürgen Vogel, Wo ist Max Gravert?) nicht zumindest ein gewiefter Gegenspieler, wäre aus dem 966. Tatort wahrscheinlich ein Totalausfall geworden: Vogel, der bei seinem Tatort-Debüt in Rendezvous 1990 ebenfalls auf Ulrike Folkerts traf, schüttelt seine Rolle lässig aus dem Ärmel, doch die Schwärmerei für die aufbrausende Powerfrau kauft man dem Antagonisten zu keinem Zeitpunkt ab ("Du weißt genauso gut wie ich, dass es da manchmal britzelt!").

Warum der Streifschuss, dem LU eine auffällige Gesichtsnarbe verdankt, gleich vier Mal in Zeitlupe gezeigt werden muss, bleibt das Geheimnis von Regisseur Jobst Christian Oetzmann (Die Heilige) – Drehbuchautorin Dagmar Gabler (Wer Wind erntet, sät Sturm) hingegen liefert mit dem aalglatten Jungunternehmer Dr. Mark Moss (Christoph Bach, Der oide Depp) und dem verbitterten Pflegefall Michi (Hendrik Heutmann) vor allem Stereotypen. Auch der hektische Schnitt und die pseudo-hippe Inszenierung suggerieren Spannung, wo gar keine ist: Der trashige Dudel-Soundtrack erstickt jede Thriller-Atmosphäre im Keim, und Kameramann Jürgen Carle (Preis des Lebens) fängt das Geschehen unnötig oft verwackelt und grobkörnig ein.

Von Ludwigshafen ist in diesem ambitionierten Style-over-Substance-Streifen im Übrigen so viel zu sehen wie nie zuvor: Eine gefühlte Viertelstunde wird allein mit nächtlichen Bildern der Kurt-Schumacher-Brücke, Außenansichten des BASF-Werksgeländes oder beliebigen Einstellungen mit Passanten und Stadtbussen gefüllt. Warum ausgerechnet ein Krimi aus der hässlichsten deutschen Tatort-Stadt mit derartig vielen belanglosen Impressionen zugekleistert wird, bleibt rätselhaft: Dienen in Berlin oder Dortmund hässliche Ecken der Großstadt bewusst als Kulisse für entsprechende Milieus, stehen die glattgebügelten Ludwigshafen-Bilder in keinem stimmigen Verhältnis zum Fall.

Bewertung: 2/10

Einmal wirklich sterben

Folge: 965 | 6. Dezember 2015 | Sender: BR | Regie: Markus Imboden
Bild: BR/Bernd Schuller
So war der Tatort:

Zoologisch.

Große Teile des 71. Falls von Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) spielen nämlich im Münchner Tierpark Hellabrunn – dort suchen die altgedienten bayrischen Hauptkommissare nach einer Tierpflegerin, die einen kleinen Jungen entführt und vielleicht sogar die neue Frau ihres verhassten Vaters getötet hat. Vielleicht.

Drehbuchautor Claus Cornelius Fischer (Schneetreiben) kombiniert in seinem zweiten Tatort Einmal wirklich sterben eine klassische Whodunit-Konstruktion mit einem wuchtigen Familiendrama, dessen Spuren 15 Jahre in die Vergangenheit reichen: Der um Haus und Handwerksbetrieb gebrachte Familienvater Daniel Ruppert (Harald Windisch, Grenzfall) tötete einst seine Frau und seinen Sohn – nur seine kleine Tochter Ella (Anna Junghans), die heute unter dem Namen Emma Meyer (starkes Debüt: Anna Drexler) in München lebt, ließ er leben. Emma ist es dann auch, die sich im Hier und Jetzt seinen sechsjährigen Sohn Quirin (Florian Mathis) schnappt und im Tierpark versteckt – unbehelligt von Kollegen oder Zoo-Besuchern, die die Anlage nach 18 Uhr nicht mehr betreten dürfen.

Schon der bedeutungsschwanger in Szene gesetzte Auftakt des Films legt nahe, dass in diesem tierischen Tatort auch die Verpackung zählt: Drei Zebras traben zu melancholischem Kindergesang in Zeitlupe durch ein nächtliches Gehege – einen tieferen Sinn offenbart diese seltsame Eröffnung allerdings nicht. Auch die Inszenierung der Schlüsselsequenz verkommt durch ihre dreimalige Wiederholung zum kitschigen Selbstzweck: Spätestens, wenn die verstörte Ella zum dritten Mal auf einer grünen Wiese vor ihrem unzurechnungsfähigen Vater flieht, stellt sich beim Betrachter ein gewisser Ermüdungseffekt ein.


RUPPERT:
Lauf, Schneeflöckchen, lauf!


Dem leinwanderfahrenen Regisseur Markus Imboden, der im ersten Tatort-Anlauf das desaströse Flückiger-Debüt Wunschdenken inszenierte, gelingt es auch diesmal nur selten, seinen Krimi auf Touren zu bringen. Das liegt aber auch am dialoglastigen Drehbuch: Der mit reichlich Kamerapräsenz bedachte Quirin sagt bis zum Schluss zwar nur wenige Worte, doch dafür reden alle anderen umso mehr.

Während sich die Ermittler mühsam von Befragung zu Befragung hangeln und hier und da in Küchenpsychologie versuchen, erledigen die in Die letzte Wiesn fast zu Statisten degradierten Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer) und Christine Lerch (Lisa Wagner) viel Fließarbeit im Präsidium.

So hat der 965. Tatort trotz Außendreh im Tierpark seine stärksten Momente im Büro: Die mit reichlich bayrischem Zungenschlag durchsetzten Dialoge sitzen, weil die eingespielte Routine zwischen Batic und Leitmayr immer wieder gekonnt aufgebrochen und hier und da mit sympathischem Witz unterlegt wird. Neben einem köstlichen Anruf von Leitmayr, der sich mit verstellter Stimme als Angestellter der Stadtwerke ausgibt, ist die beste Sequenz des Krimis die Begegnung mit dem Augsburger Kollegen Xaver Busch (Klaus Pohl): Der kauzige Hauptkommissar bringt wie einst Bernhard "Opa" Sirsch (Fred Stillkrauth) im Meilenstein Der oide Depp wie selbstverständlich Alkohol mit ins Präsidium und leistet lieber persönlich Amtshilfe, als die Berichte einfach durchzuschicken ("Ich hab gedacht, wir gehen erstmal frühstücken!").

Wirklich spannend ist Einmal wirklich sterben dann am Schluss – doch wer 1 und 1 zusammenzählen kann, ist in Sachen Auflösung bis dahin längst auf der richtigen Fährte. Neben der abgetauchten Emma gibt es mit deren Freundin Lissy Berger (Andrea Wenzl, Kaltstart) und Quirins leiblichem Vater Bernhard Helmbrecht (Simon Schwarz, sonst als Inkasso-Heinzi im Wiener Tatort zu sehen) nämlich nur zwei weitere Verdächtige.

So können auch die sonnigen Frühlingsbilder, die guten Schauspieler und die hübschen Tierpark-Impressionen nicht über die Mankos dieses mittelprächtigen Krimis hinwegtäuschen: zu wenig Gänsehautmomente, zu viele Dialoge und allenfalls mäßig interessante Figuren.

Bewertung: 5/10

Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes

Folge: 964 | 29. November 2015 | Sender: NDR | Regie: Claudia Garde
Bild: NDR/Philip Peschlow
So war der Tatort:

Ungeplant.

Denn eigentlich sollte der herausragende Kieler Tatort Borowski und der stille Gast mit seiner fiesen Schlusspointe für sich alleine stehen – doch die erfolgreiche Flucht des mehrfachen Frauenmörders Kai Korthals (Lars Eidinger, Hauch des Todes), der in der Schlussminute des hochklassigen Thrillers aus einem Krankenwagen entkam, ließ vielen TV-Zuschauern das Blut in den Adern gefrieren. Schnell wurden Rufe nach einer Fortsetzung laut – und so schrieb Drehbuchautor Sascha Arango (Borowski und der Engel), der mit Regisseurin Claudia Garde zuletzt den letzten Leipziger Tatort Niedere Instinkte arrangierte, eine Fortsetzung.

Die Messlatte in Sachen Unterhaltungswert könnte kaum höher liegen, und der zweifache Grimme-Preisträger hätte es sich einfach machen können: Die Geschichte um den gespenstischen Gast, der sich heimlich in die Wohnungen seiner Opfer schleicht und in deren Privatsphäre schnüffelt, hätte in ähnlicher Form auch ein zweites Mal funktioniert, und wäre dabei sicher kaum weniger spannend ausgefallen als der vielgelobte Vorgänger.

Doch Arango spinnt die Handlung weiter: Psychopath Korthals, der das Publikum wie kaum ein zweiter Mörder in der Tatort-Geschichte begeisterte, hat sich über die Jahre verändert. Er ist Vater geworden und hat sein Kind brutal aus dem Leib der geistig verwirrten Mandy Kiesel (Lea Draeger, Im Sog des Bösen) geschnitten. Weil sie überlebt, bringt sie die Kieler Hauptkommissare Klaus Borowski (Axel Milberg) und Sarah Brandt (Sibel Kekilli) auf die richtige Spur – und die Jagd auf den unberechenbaren Serientäter geht ohne größeres Vorgeplänkel in die zweite Runde. Doch halt.


BRANDT:
Auch Unmenschen ändern sich.


Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes ist keine uninspirierte Neuauflage des Vorgängers, sondern ein eigenständiger Psychothriller mit neuen Stärken. Statt einer fieberhaften Suche nach Korthals und eines Wettlaufs gegen die Zeit, bei dem es weitere Opfer zu verhindern gilt, entspinnen die Filmemacher ein emotionales Mann-gegen-Mann-Duell, bei dem sich der sonst so besonnene Borowski über sämtliche Dienstvorschriften hinwegsetzt.

Das hat einen triftigen Grund: Psychologin Frieda Jung (Maren Eggert), die sich in Tango für Borowski für lange Jahre aus der Fördestadt verabschiedete, ist für diesen besonderen Kieler Tatort zurückgekehrt – und nach einer gemeinsamen Silvesternacht nicht nur Borowskis Ehefrau in spe, sondern auch Korthals' nächstes Opfer. Der Kieler Hauptkommissar zeigt sich aufgrund dieser persönlichen Betroffenheit so aufgewühlt wie selten.

Nach einem anfänglichen Wechselspiel aus Spannung und Entspannung entwickelt sich durch Jungs Entführung ein fiebriger Kampf zweier Männer, die bis zum Äußersten gehen würden – und wenn sich Korthals und Borowski in der Küche des Kommissars eine wilde Würgerei liefern, liegen Gut und Böse so nah beieinander wie selten in der Krimireihe.

Dem blendend aufgelegten Axel Milberg bietet dieser Alleingang die Gelegenheit, etwas mehr von seinem schauspielerischen Können zu zeigen als sonst im Kieler Tatort – an seinem starken Auftritt ändert auch der alberne Oberlippenbart nichts, mit dem er zwar nicht unbedingt ästhetischen Ansprüchen, dafür aber der TV-Premiere im Movember gerecht wird.

Unumstrittener Star des packenden und – wie immer bei Arango – wendungsreichen Thrillers ist dennoch Lars Eidinger: Der Theaterschauspieler brilliert auch bei seinem zweiten Auftritt als stiller Gast in jeder einzelnen Sequenz und unterstreicht im 964. Tatort seinen Status als einer der besten Charakterdarsteller Deutschlands. Korthals' innerliche Gratwanderung zwischen verzweifeltem Vater, vordergründig normalem Durchschnittsbürger ("Ich bin kein böser Mensch!") und sadistischem Frauenmörder ist allein schon das Einschalten wert. Sie stellt sogar das überzeugende, wenn auch etwas konstruiert wirkende Comeback von Maren Eggert in den Schatten, die im Zusammenspiel mit Milberg und Eidinger ebenfalls eine starke Performance abliefert.

Und der Kieler Tatort wäre nicht der Kieler Tatort, wenn nicht auch noch Zeit für feindosierten Humor bliebe: Köstlicher Dialogwitz und eine süffisante Anspielung auf die Star Wars-Reihe runden den packenden Thriller gelungen ab.


KORTHALS:
Willkommen auf der dunklen Seite, mein Freund.


Bewertung: 9/10

Spielverderber

Folge: 963 | 22. November 2015 | Sender: NDR | Regie: Hartmut Schoen
Bild: NDR/Frederic Batier
So war der Tatort:

Notlösend.

Denn eigentlich hätte am 22. November 2015 Der große Schmerz samt Gastspiel von Schlagerstar Helene Fischer laufen sollen – doch die ARD gab den Spielverderber und verschob den mit Spannung erwarteten dritten Einsatz von Nick Tschiller (Til Schweiger) und Yalcin Gümer (Fahri Yardim) wegen inhaltlicher Parallelen zu den Pariser Terror-Anschlägen auf den 1. Januar 2016.

Schweiger, der angesichts der prominenten Unterstützung wohl auch auf einen Wirkungstreffer im Quotenduell mit dem Tatort aus Münster gehofft hatte, passte das gar nicht, doch der NDR ließ sich nicht in seiner Entscheidung beirren. Während die eine Hälfte der Zuschauer die Entscheidung begrüßte und sich ohnehin eine Terminverschiebung auf den Sankt Nimmerleinstag wünschte, muss sich die Fischer-Fan-Fraktion noch ein paar Wochen gedulden.

Die vorgezogene Notlösung der ARD ist aber keine überzeugende: Spielverderber ist eine jener Tatort-Folgen, nach denen man förmlich die Uhr stellen kann. Kaum hat die vielbeschäftigte LKA-Kommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) ihren neuesten Fall aufgenommen, zückt sie auch schon ihr Handy: Es folgen die immer gleiche Bitte an ihre Mutter Annemarie (Kathrin Ackermann), auf Sohn David aufzupassen, das obligatorische Drängen ihrer Mutter, sich mehr Zeit für den Kleinen zu nehmen, und Lindholms ewige Versprechen, dies zukünftig auch wirklich zu tun. Diese Fixpunkte gehören seit Jahren fest zum Krimi aus Hannover.

Wenigstens verzichtet Regisseur Hartmut Schoen (Schlaflose Nächte), der mit Susanne Schneider (Der schöne Schein) auch das Drehbuch schrieb, auf eine Furtwänglersche Duschszene – stattdessen liegt der damalige BILD-Herausgeber Kai Diekmann als großzügig aufgeschnittene Leiche auf dem Seziertisch von Gerichtsmediziner Hans Jepsen (Niels Bormann, Vielleicht).


JEPSEN:
Bei dem ist richtig was schief gegangen.


Diekmanns selbstironischer Cameo-Auftritt ist zugleich die beste Szene des entfernt an Top Gun erinnernden Krimis, dem es an Tiefgang mangelt: Während im Saarbrücker Tatort Heimatfront die Traumata deutscher Afghanistan-Soldaten greifbar wurden, wird der Bundeswehr-Alltag in Spielverderber über weite Strecken romantisiert und kaum von innen beleuchtet.

Nach dem packend in Szene gesetzten Auffinden der Leiche von Lore Körner (Nora Huetz, Ätzend) kristallisiert sich ihr Ex-Mann Jan (Gerdy Zint, Im Schmerz geboren) als Hauptverdächtiger heraus – allerdings so schnell, dass echte Krimi-Kenner kaum auf diese falsche Fährte hereinfallen dürften. Die Tatwaffe entdeckt die Kommissarin dann rein zufällig – über eine Distanz von zwanzig Metern, mitten auf einem Acker im Nirgendwo der niedersächsischen Provinz.

So rücken schließlich zwei Kollegen Körners in den Blickpunkt: Zum einen Stützpunktleiter Andreas Friedrichs (Richard van Weyden), zum anderen Soldatin Kristin Goebels (Jasmin Gerat, Grabenkämpfe), deren Mann Paul (Thure Lindhardt, Architektur eines Todes) ein Verhältnis mit der Toten nachgesagt wurde. Auch angesichts der Rollenbesetzung ist die Auflösung der Täterfrage offensichtlich – und wer schon nach der ersten Begegnung von Lindholm und Friedrichs darauf tippt, dass es früher oder später zwischen den beiden funkt, liegt ebenfalls goldrichtig.

Die kurze Liaison mit dem ergrauten Oberst reiht sich nahtlos ein in die lange Liste altbekannter Hannoveraner Standardszenen, die im 963. Tatort uninspiriert aneinandergereiht werden. Da dürfen auch die Scherereien mit dem Staatsanwalt nicht fehlen: Während Lindholm ansonsten gern mal überforderte Provinzbeamte zur Seite gestellt werden (vgl. Pauline oder Hexentanz), wird die Kommissarin diesmal vom überkritischen Staatsanwalt Mühlhoff (Rainer Winkelvoss, Todesangst) beäugt, der offenbar nichts Besseres zu tun hat, als ihr auf Schritt und Tritt zu folgen.

Seine platten Bringen-Sie-mir-endlich-Beweise-Predigten treiben Lindholm irgendwann Tränen in die Augen, beim Showdown hingegen drücken die Filmemacher beim Zuschauer auf die Tränendrüse: Judy Garlands vielzitierter Klassiker Over The Rainbow musste selten für einen so kitschigen Showdown herhalten wie in diesem Tatort.

Bewertung: 4/10

Ätzend

Folge: 962 | 15. November 2015 | Sender: rbb | Regie: Dror Zahavi
Bild: rbb/Volker Roloff
So war der Tatort:

Horizontal erzählt.

Denn der rbb setzt ähnlich wie der WDR in den Tatort-Folgen aus Dortmund, in denen das Privatleben von Peter Faber (Jörg Hartmann) & Co. einen wesentlichen Teil der Rahmenhandlung ausmacht, in seinem Krimi aus der Hauptstadt auf eine parallel zum eigentlichen Mordfall laufende, folgenübergreifende Geschichte.

Schon der Berliner Vorgänger, in dem die Hauptkommissare Nina Rubin (Meret Becker) und Robert Karow (Mark Waschke) erstmalig auf Täterfang gingen, ließ diese für Tatort-Verhältnisse ungewohnte Erzähltechnik erahnen: Das Muli endete mit einem offenen Ende, weil Rubin im Spreepark eine Kugel entdeckte und den Tod von Karows Ex-Kollegen Maihack damit in ein völlig neues Licht rückte.

Wer aus dieser Schlusspointe nicht so recht schlau wurde, erlebt in Ätzend einen Aha-Effekt: Die 962. Tatort-Ausgabe ist eine direkte Fortsetzung des Berliner Vorgängers. Wer diesen verpasst oder verdrängt hat, wird von den Drehbuchautoren Mark Monheim und Stephan Wagner, der bei Das Muli Regie führte, einleitend an die Hand genommen: In der Auftaktminute platzieren die Filmemacher einen kurzen Rückblick, der dem Zuschauer den Mord an Drogenmogul Mehmet Erdem (Kida Khodr Ramadan, Melinda) noch einmal ins Gedächtnis ruft.

Nicht jedem Tatort-Fan schmeckt dieser horizontale Erzählansatz – und wer schon das letzte Finale unbefriedigend fand, wird an diesem noch weniger Gefallen finden. Wieder endet der Film mit einem knackigen Cliffhanger. Das Problem bei der Sache: Der nächste Fall von Rubin und Karow lässt noch Monate auf sich warten – Ätzend ist aber in erster Linie ein Übergangsfall zur Verbindung des Debüts mit dem, was in den nächsten Folgen noch kommen mag.

Für sich allein genommen wirkt das Krimidrama inhaltlich überfrachtet: Dass die Kommissare eine stark zersetzte Leiche in einem Säurefass und eine zweite auf einer nahegelegenen Baustelle finden, rückt immer wieder in den Hintergrund.

Filmemacher Dror Zahavi, der neben dem starken Kölner Tatort Franziska zuletzt Auf ewig Dein und Kollaps aus Dortmund inszenierte, beleuchtet neben der Gefühlswelt seiner Figuren auch ein iranisches Familiendrama: Über einem im Fass gefundenen Herzschrittmacher führt die Spur führt zu Saed Merizadi (Husam Chadat, Die Feigheit des Löwen), der in Neukölln ein Dentallabor betreibt und die Identität seines legal in Deutschland lebenden Bruders angenommen hat. Seine hochschwangere Frau Layla (Elmira Rafizadeh) und sein Sohn Arash (Julius Ipekkaya), die wie er keine Aufenthaltsgenehmigung besitzen, sind in Berlin untergetaucht.

"Ist doch absurd, oder? Der eine Mensch ist illegal und der andere nicht", bringt Rubin das Dilemma der Familie auf den Punkt – geht danach aber direkt wieder zur Tagesordnung über. Tiefenbohrung wird hier nicht betrieben. Dafür bleibt auch keine Zeit: Die Filmemacher illustrieren die Suche nach dem Mörder, Karows Nachforschungen über Maihacks Tod, das Schicksal der Merizadis und die Odyssee der jungen Ira (Stephanie Amarell) mit Hobby-Boxer Arash, der ausgerechnet bei Rubins Vater Kalle Ratke (Tilo Prückner, spielte von 2001 bis 2008 den Hamburger Hauptkommissar Eduard Holicek) trainiert. Nebenbei kommt Rubin auch noch ihrem getrennt lebenden Mann Victor (Aleksandar Tesla) wieder näher.

Diese zahlreichen Nebenkriegsschauplätze erdrücken den Mordfall, dessen Hintergründe in wenigen Minuten abgefrühstückt werden. Vor allem die Auflösung wird überhastet und uninspiriert vorgetragen. Der horizontale Ansatz zahlt sich zwar in den nächsten Fällen aus der Hauptstadt aus, wenn die verschiedenen Handlungsfäden wieder aufgegriffen werden – für sich allein genommen aber ist der zweite Einsatz des Berliner Teams nur ein mäßig spannendes, unvollendetes Krimidrama. Dass Robert Karow, der spontan eine Nacht mit einem Mann verbringt, der erste bisexuelle Kommissar der Tatort-Geschichte ist, gerät dabei fast zur Randnotiz.

Bewertung: 5/10

Schwanensee

Folge: 961 | 8. November 2015 | Sender: WDR | Regie: André Erkau
Bild: WDR/Willi Weber
So war der Tatort:

Weit weniger albern als Mord ist die beste Medizin und Erkläre Chimäre – und zugleich eine ganze Ecke unterhaltsamer als die genannten Vorgänger.

Wenige Wochen vor der großen Einschaltquotenoffensive von Til Schweiger und Schlagerstar Helene Fischer in der Doppelfolge Der große Schmerz und Fegefeuer liefern Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) und Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) ihren Millionen Fans einmal mehr das, was diese von ihnen erwarten: Thiels muffelige Wortgefechte mit Nadeshda Krusenstern (Friederike Kempter), Boernes obligatorische Neckereien am Seziertisch mit Assistentin Silke "Alberich" Haller (Christine Urspruch), vor allem aber viele gelungene Pointen, die spürbar origineller ausfallen als in den vorhergehenden Tatort-Folgen aus Münster.

Denn die ersten Minuten in Schwanensee täuschen: Der leinwanderprobte Regisseur André Erkau, der gemeinsam mit den Cenk Batu-Erfindern Thorsten Wettcke (Auf der Sonnenseite) und Christoph Silber (Häuserkampf) auch das Drehbuch schrieb, entwirft im malerisch gelegenen Therapiezentrum am Aasee eine für Münsteraner Verhältnisse fast bodenständige Whodunit-Konstruktion, bei der die Ermittlungen und die Auflösung der Täterfrage nicht komplett hinter abgegriffenen Zoten und müdem Slapstick zurückstehen müssen.

Erkau setzt bei seinem Tatort-Debüt nur selten auf Klamauk und harmlose Altherrenwitzchen: Thiels einleitender Beinahe-Sturz im Schwimmbad, der Erinnerungen an den Silvester-Klassiker Dinner for One weckt, bleibt eine ebenso alberne Ausnahme wie Boernes Trockenübungen vor dem Spiegel, mit denen sich der Professor in kompletter Tauchermontur auf einen anstehenden Trip auf die Malediven vorbereitet. Die Urlaubspläne wirft Boerne ohnehin schnell über den Haufen: Im Therapiezentrum Schwanensee wartet die Leiche der attraktiven Mona Lux (Jessica Honz), und die erfordert schon bald seinen vollen Einsatz.

Aus der rasanten Taxifahrt mit Herbert "Vaddern" Thiel (Claus Dieter Clausnitzer) ergibt sich der beste Running Gag des Films – und spätestens, wenn "Alberich" flugs ausgedruckte Testergebnisse vom Straßenrand aus ins vorbeibrausende Taxi reicht, läuft das Münsteraner Figurenensemble zu Hochform auf. Die hohe Gagdichte des ersten Filmdrittels geht im Mittelteil etwas verloren – bis die sympathischen Patienten in die Bresche springen, deren Verhaltensauffälligkeiten viele Lacher generieren. Der köstlich derbe Heinz Gärtner (Matthias Hörnke), der keinen Satz ohne Kraftausdruck über die Lippen bringt, stiehlt jede Szene, in der er auftritt, während die an unersättlicher Libido leidende Evi Haberlein (Manuela Alphons) Boerne mit wenig subtilen Flirt-Versuchen aus der Reserve lockt.

Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Krankheitsbildern ist in Münster allerdings nicht zu erwarten: Alle Patienten werden auf lediglich eine Charaktereigenschaft reduziert; und vor allem Restaurantbesitzer Alberto Di Sarto (Roberto Guerra, Ihr werdet gerichtet) und der schizophrene Telenovela-Fan Isa Storch (Nadja Zwanziger, Tödliche Häppchen) sind kaum mehr als wandelnde Klischees. Doch es gibt einen Lichtblick: Der groß aufspielende Robert Gwisdek (Mauerpark) mimt mit dem autistisch veranlagten Andreas Kullmann die interessanteste Figur des Schmunzelkrimis. Der mathematisch begnadete Ex-Steuerfahnder löst binnen Sekunden komplexeste Rechenaufgaben und sorgt damit immer wieder für Verblüffung, übersieht bei seiner morgendlichen Runde im Schwimmbad aber glatt die Leiche unter Wasser.

Nicht unter, sondern auf dem Wasser hingegen spielt der große Showdown: Während bei Quoten-Konkurrent Til Schweiger atemberaubende Action-Einlagen an der Tagesordnung sind, strampeln Thiel und Boerne dem Mörder spontan in einem Tretboot hinterher. Das hat Stil, das macht Spaß, das ist originell: Es geht auch mit reduzierter Klamaukdosis in Münster, ohne dass der Unterhaltungswert dabei auf der Strecke bliebe.

Bewertung: 7/10

Côte d'Azur

Folge: 960 | 1. November 2015 | Sender: SWR | Regie: Ed Herzog
Bild: SWR/Johannes Krieg
So war der Tatort:

Vorgezogen.

Denn eigentlich sollte Côte d'Azur nicht am 1. November, sondern erst Mitte Dezember 2015 laufen – und der kurzfristige Termintausch mit dem Kölner Tatort Benutzt ist für den weihnachtlich angehauchten Sozialkrimi aus Konstanz alles andere als von Vorteil.

Im bunt geschmückten Präsidium kann noch so munter der Adventskranz angezündet oder am Ende unterm Tannenbaum "O du fröhliche" gesungen werden – mitten im Herbst kommt einfach keine Weihnachtsstimmung auf. Geschenkeorgien und Weihnachtsmänner wirken zu diesem vergleichsweise frühen Zeitpunkt des Jahres fehl am Platz – ganz anders als im Saarbrücker Tatort Weihnachtsgeld, der 2014 ganz im Zeichen seines Sendetermins stand.

Côte d'Azur ist der drittletzte Fall für Hauptkommissarin Klara Blum (Eva Mattes) und Kai Perlmann (Sebastian Bezzel), die Ende 2014 vom SWR ihr Kündigungsschreiben erhielten, und wirklich schwer machen die beiden einem dem Abschied nicht: Wie schon der durchwachsene Rotweinkrimi und Vorgänger Château Mort ist auch ihr 25. gemeinsamer Einsatz ein alles andere als aufregender Tatort ohne nennenswerte Überraschungsmomente und originelle Nebenfiguren.

Drehbuchautor Wolfgang Stauch und Regisseur Ed Herzog, die zuletzt Die schöne Mona ist tot zusammen konzipierten, arrangieren eine Whodunit-Konstruktion nach altbekanntem Tatort-Muster, die aber zumindest mit einer kniffligen Auflösung aufwartet: Bis in die Schlussminuten bleibt unklar, wer die junge Mutter Vanessa Koch (Mandy Rudski) brutal erschlagen und ihr Baby bei eisiger Kälte im Schilf am Winterer Steig zurückgelassen hat. Passend zu den frostigen Temperaturen ist auch die Stimmung zwischen den Kommissaren, die seit Perlmanns Debüt in Bitteres Brot gemeinsam im Einsatz sind, so unterkühlt wie nie: Blum kann ihrem Kollegen eine einleitende Fehleinschätzung, die fast zum Kältetod des Säuglings führt, ebenso wenig verzeihen wie er sich selbst.

Doch so sehr man ihren Ärger verstehen kann, so aufgesetzt wirkt die nachtragende Art der sonst so besonnenen Kommissarin, so konstruiert der Konflikt. Erst als sich die mit Abstand nervtötendste Nebenfigur, Kinderarzt Dr. Schwenkner (Barnaby Metschurat, Trautes Heim), dank einiger geschmackloser Bemerkungen zum gemeinsamen Feindbild der beiden mausert, stellt sich wieder Harmonie ein. Bis dahin fliegen die Giftpfeile nur so durchs Büro – ganz zum Leidwesen der fleißigen Assistentin Annika "Beckchen" Beck (Justine Hauer), die auch in Côte d'Azur nicht über die ewige Rolle als austauschbare Aktenheldin mit bemühtem süddeutschen Zungenschlag hinauskommt.

Am interessantesten gestaltet sich der 960. Tatort dann, wenn sich die Filmemacher Zeit für die wohnungslosen Verdächtigen in der Baracke nehmen, in der das Mordopfer regelmäßig an Saufgelagen teilnahm: Jeder der fünf Bewohner wird mit einer kurzen Vorgeschichte skizziert, alle bringen sie ein Motiv und die Gelegenheit für die Tat mit. Über das Schicksal des inkontinenten und geistig angeschlagenen Ex-Zirkus-Cowboys Bill (stark: Frank Fink) hätte man allerdings gern mehr erfahren – er sorgt für einen rührenden Moment am Kinderkarussell auf dem Weihnachtsmarkt und ist die mit Abstand interessanteste Figur.

Statt sich seiner Vorgeschichte zu widmen, eröffnen die Filmemacher aber einen anstrengenden Nebenkriegsschauplatz um den kalten Entzug der drogensüchtigen Franziska (Friederike Linke, Der Fall Reinhardt), die in einer Zelle Höllenqualen durchlebt und sich dennoch zur plauderfreudigen Informationsquelle mausert. Dieser wenig glaubwürdige Auftritt trieft aber zumindest nicht so vor Klischees wie der des überzeichneten Dieter Bohlen-Verschnitts Jürgen Evers (Das Dorf) oder der des Bilderbuch-Punks Lucky (Kai Malina, Auskreuzung), der Badezimmer-Spray schon mal als Deo zweckentfremdet.

Bewertung: 4/10

Preis des Lebens

Folge: 959 | 25. Oktober 2015 | Sender: SWR | Regie: Roland Suso Richter
Bild: SWR/Alexander Kluge
So war der Tatort:

Nervenaufreibend.

Und das nicht nur für den Zuschauer, sondern vor allem für Hauptkommissar Sebastian Bootz (Felix Klare): Zum ersten Mal erweist es sich im Stuttgarter Tatort als großer Vorteil für Drehbuch und Spannung, dass Bootz einer der wenigen Ermittler ist, die in der Krimireihe überhaupt eine Familie haben, oder besser gesagt: hatten.

Frau und Kinder verließen ihn 2013 in Spiel auf Zeit, doch darf der Single zumindest mal wieder Tochter Maja (Miriam Joy Jung, Debüt in Happy Birthday, Sarah) bei sich einquartieren. Das Vater-Tochter-Glück, das sich in Preis des Lebens beim Auftakt-Joggen ums Milaneo und über die Stuttgart 21-Baustelle offenbart, ist allerdings nicht von langer Dauer: Maja wird nach einer Übernachtungsparty bei Freunden entführt und treibt ihren besorgten Vater damit zur Verzweiflung. Waren die mal mehr, mal weniger harmonischen Familienszenen im Hause Bootz bis dato meist spannungstötende Störfeuer zugunsten der Charakterzeichnung, so bildet das gemeinsame Bangen mit Ex-Frau Julia (Maja Schöne) diesmal das emotionale Epizentrum der Geschichte.

Für die Entführung verantwortlich zeichnen Simone (Michaela Caspar, Schwarze Tiger, weiße Löwen) und Frank Wendt (Robert Hunger-Bühler, Letzte Tage): Sie trauern noch immer um ihre Tochter Mareike, die von fünfzehn Jahren brutal vergewaltigt und erdrosselt wurde. Mit dem frisch aus der Haft entlassenen Täter Jörg Albrecht (David Bredin) machen sie in den ersten Krimiminuten kurzen Prozess – und weil die Stuttgarter Kommissare dessen ehemaligen Komplizen Stefan Freund (Christian Kerepeszki, Wahre Liebe) in Schutzhaft nehmen, nutzen die Mendts Bootz' Tochter als Druckmittel dafür, Freund ausliefern zu lassen. Für Bootz und seinen Kollegen Thorsten Lannert (Richy Müller) eine absolute Ausnahmesituation.


BOOTZ:
Wenn ihr auch nur irgendetwas passiert, werden wir nicht mehr die Alten sein.

LANNERT:
Das sind wir jetzt schon nicht mehr.


Das Vertrauensverhältnis der Kommissare, die seit ihrem Debüt in Hart an der Grenze selten verschiedener Meinung waren, wird in diesem emotionalen Krimidrama nach einem Wortbruch von Lannert in seinen Grundfesten erschüttert. Einen Ermittler persönlich in den Fall zu involvieren, ist nicht gerade ein kreativer Einfall – doch was Drehbuchautor Holger-Karsten Schmidt (Tödliche Tarnung) und Regisseur Roland Suso Richter (Spiel auf Zeit) aus der relativ konventionellen Geschichte herausholen, ist über weite Strecken erstklassige TV-Unterhaltung.

Zu Recht gelten Tatort-Folgen, bei denen der Mörder von Beginn an feststeht, bei vielen Krimifans als die besseren (vgl. Der kalte Tod, Borowski und das Mädchen im Moor), und diese Theorie unterstützt auch Preis des Lebens wieder. Statt der gewohnten Whodunit-Konstruktion entspinnen die Filmemacher ein fiebriges Katz-und-Maus-Spiel, bei dem die cleveren Entführer am längeren Hebel sitzen und Bootz von Minute zu Minute stärker auf den mentalen Abgrund zusteuert. Ein Versuch nach dem anderen, das abgetauchte Ehepaar dingfest zu machen, schlägt fehl: Weil die Mendts nichts zu verlieren haben, bleibt es bis zum Finale spannend.

Kleinere Logiklöcher und die Tatsache, dass sowohl Lannert als auch Staatsanwältin Emilia Alvarez (Carolina Vera) und Assistentin Nika Banovic (Mimi Fiedler) Bootz' wirre Anweisungen nach dem Anruf der Entführer und seine offensichtliche seelische Verwandlung merkwürdig spät registrieren, sind angesichts des hohen Unterhaltungswerts nicht tragisch. Ein bisschen schade ist aber der starke Fokus auf den eindimensionalen Frank Mendt, der sich zum alleinigen Gegenspieler der Kommissare mausert: Theaterschauspielerin Michaela Caspar hätte man mehr Kamerapräsenz gewünscht, schließlich deutet sie ihr großes Potenzial schon in der beklemmenden Auftaktsequenz an.

Der 959. Tatort ist dennoch ein sehr reizvolles Krimidrama, das trotz der abgegriffenen Ausgangslage und kleineren Schwächen in der B-Note bis in die Schlussminuten überzeugt.

Bewertung: 8/10

Kollaps

Folge: 958 | 18. Oktober 2015 | Sender: WDR | Regie: Dror Zahavi
Bild: WDR/Thomas Kost
So war der Tatort:

Déjà-vu-esk – und das gleich doppelt.

Denn gleich zwei Gesichter dürften dem Stammpublikum bei der TV-Premiere von Kollaps im Oktober 2015 bekannt vorkommen: Zum einen das von Werner Wölbern (Er wird töten), der eine Woche zuvor in Verbrannt den rassistischen Leiter einer Polizeiwache in Salzgitter mimte und diesmal als ausländerfeindlicher Modelleisenbahn-Fan zu sehen ist.

Zum anderen aber auch das von Adrian Can (Wem Ehre gebührt), dem die Dortmunder Ermittler Peter Faber (Jörg Hartmann), Martina Bönisch (Anna Schudt), Nora Dalay (Aylin Tezel) und Daniel Kossik (Stefan Konarske) nach 2012 bereits zum zweiten Mal begegnen: Wie einst in Mein Revier mimt Can den einflussreichen Unterweltkönig Tarim Abakay, der von muskelbepackten Bodyguards bewacht wird und Faber stets auf ein Gläschen Tee einlädt.

Für die horizontale Erzählweise, eines der Markenzeichen der Krimis aus dem Ruhrpott, ist Tabakay diesmal der Dreh- und Angelpunkt: Faber erhofft sich von ihm Hinweise auf die untergetauchten senegalesischen Dealer Jamal (Warsama Guled) und Niara Gomis (Victoire Laly) und setzt sich bei seinem Alleingang über alle Vorschriften hinweg. Anders als in so vielen anderen Tatort-Folgen bleibt das nicht folgenlos: Es kommt zum lautstarken Bruch zwischen Faber und Kossik, der im nächsten Dortmunder Tatort Hundstage wieder aufgegriffen wird.

Auch das Treiben der Dealer hat Folgen: Ihre versteckten Kokaintütchen auf einem Spielplatz in der Nordstadt kosten die kleine Emma (Sophie Schwierske) das Leben, weil sie die bunten Pillen im Sand für Bonbons hält. Und da ihre Mutter Claudia Siebert (Alexandra Finder, Todesspiel) zu spät hinsieht, sind die Rettungsversuche der Sanitäter Oliver Lahnstein (Axel Schreiber, Franziska) und Kai Lubitz (Stefan Haschke, Macht der Angst) vergeblich.

Die Tonalität des Films wird bereits bei diesem beklemmenden Auftakt deutlich: In Kollaps, der auf dem Krimifestival Tatort Eifel seine Vorpremiere feierte, zieht sich der Filmtitel wie ein roter Faden durchs Geschehen. Er spielt nicht nur auf den grausamen Tod des kleinen Mädchens, sondern auch auf das Seelenleben ihres geschockten Vaters Roland Siebert (Sönke Möhring, Bruder von Tatort-Kommissar Wotan Wilke Möhring) und das Privatleben von Bönisch an.

Letztere betäubt ihren Frust darüber, dass ihr Mann das alleinige Sorgerecht für die Kinder erwirkt hat, mit One-Night-Stands und zeigt sich so unausgeglichen wie nie. Anna Schudt gibt dies Gelegenheit, ihr schauspielerisches Können in die Waagschale zu werfen: Während sonst meist Kollege Jörg Hartmann als exzentrischer Borderline-Kommissar für die Eskapaden zuständig ist, bildet Faber diesmal den ruhenden, fast besorgten Gegenpol zur schlecht gelaunten und zunehmend aggressiven Kollegin.

Die Stadt Dortmund wird dabei wieder von ihrer tristesten Seite gezeigt: Drehbuchautor Jürgen Werner, der bis auf Schwerelos alle bisherigen Faber-Folgen konzipierte, lässt die Ermittler vor kalten Betonkulissen, in verwahrlosten Wohnungen und vor graffitiverschmierten Wänden ermitteln. Wie schon in Hydra oder Eine andere Welt durchsetzen die Filmemacher das Krimidrama mit viel Lokalkolorit und greifen dabei gesellschaftliche Reizthemen auf: Diesmal sind es die sozialen Probleme in der Nordstadt und die konkreten Auswirkungen der Flüchtlingsbewegung. Stellung beziehen sie allerdings nicht: Politische Patentlösungen sucht man ebenso vergebens wie polizeiliche Moralpredigten, wie sie so oft im Kölner Tatort zu beobachten sind.

Etwas enttäuschend fällt die Auflösung aus: Die Antwort auf die Frage, wer den Tod der kleinen Emma gerächt hat, dürfte für Krimi-Kenner spätestens nach einem Feierabendbier von Kossik und einem Verdächtigen Routine sein. Doch Stammautor Werner hat noch ein Ass in der Hinterhand: Er lässt dem Showdown auf dem Spielplatz eine heftige Schlusspointe folgen, die die Perspektivlosigkeit der Flüchtlinge brutal auf den Punkt bringt und ein zutiefst beunruhigendes Gefühl hinterlässt.

Heile Welt ist im Dortmunder Tatort nicht drin – dafür steht Kollaps exemplarisch.

Bewertung: 7/10

Verbrannt

Folge: 957 | 11. Oktober 2015 | Sender: NDR | Regie: Thomas Stuber
Bild: NDR/Alexander Fischerkoesen
So war der Tatort:

Brandaktuell – und das im wörtlichsten Sinne.

Zweieinhalb Jahre nachdem die Hauptkommissare Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) und Katharina Lorenz (Petra Schmidt-Schaller) bei ihrem starken Debüt Feuerteufel einen Brandstifter jagten, ermitteln sie diesmal gegen zündelnde Kollegen: In Salzgitter wird ein afrikanischer Asylbewerber, dem die Ermittler Kontakte zu Schleuserbanden unterstellen, nach einer Verfolgungsjagd per pedes über Nacht in Polizeigewahrsam genommen – und liegt am nächsten Morgen Verbrannt in seiner Zelle.

Mitten in Zeiten der europäischen Flüchtlingskrise entspinnen Regisseur Thomas Stuber und Drehbuchautor Stefan Kolditz (Das Muli) ein beklemmendes Szenario: Der Mann aus Mali wurde zu Unrecht inhaftiert und hinter Gittern auf grausamste Art und Weise ermordet. Die Vorlage für den 957. Tatort liegt zehn Jahre zurück: Kolditz arbeitet den realen Fall von Oury Jalloh aus Sierra Leone auf, der 2005 in einer Dessauer Gefängniszelle verbrannte. Zwar wurde nach jahrelangen Prozessen ein Polizist wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe verurteilt, doch sind die genauen Todesumstände bis heute ungeklärt.

Genau hier setzen die Filmemacher an: Falke und Lorenz bekommen nach einer starken Einleitung, in der Falke dem aufmüpfigen Flüchtenden mehrfach ins Gesicht schlägt, einen reizvollen Whodunit serviert und stoßen bei ihren Nachforschungen auf dem Revier von Dienststellenleiter Werl (Werner Wölbern, Kollaps) auf eine Mauer des Schweigens. Einzig die labile Polizistin Maria Sombert (überzeugend: Annika Kuhl, Er wird töten) ist schnell als schwächelndes Glied in der Kollegen-Kette ausgemacht.

Aus Verbrannt, der vor der TV-Premiere auch in 160 deutschen Kinos zu sehen war, hätte ein bärenstarker Krimi werden können – wären da nicht die vorhersehbare Auflösung und das schwache Schlussdrittel, die den bis dato guten Gesamteindruck schmälern. Dass sich der Afrikaner, den die Beamten in seiner Zelle mit Handschellen fixiert haben, kaum selbst hat umbringen können, ist früh offensichtlich, und so dudelt bei einer Grillfeier unter Polizisten erst Black Magic Woman, dann Andreas Bouranis WM-Hit Auf uns ("Hier geht jeder für jeden durchs Feuer") im Hintergrund: Zwei doppeldeutige, bitterböse Details, die Krimi-Kennern auf Tätersuche kaum entgehen dürften.

Trickreiche Vertuschungsversuche des Mörders sucht man indes vergebens: Obwohl der Gesuchte nach einer auffallend kurzen Auftaktbefragung lange Zeit aus dem Blickfeld gerät, ist er schon nach einem kurzen Wortwechsel geständig. Es greifen die üblichen Tatort-Mechanismen, während der "institutionelle Rassismus", den Kabarettist Serdar Somuncu bei seinem bissigen Gastauftritt als Anwalt des Toten anführt, in einer etwas übertriebenen Referenz auf Siegfried-Mörder Hagen von Tronje aus der Nibelungen-Sage gipfelt: Hier wäre weniger mehr gewesen.

Ähnlich wie zuletzt die Schweizer Kollegen in Schutzlos hätten sich die Filmemacher intensiver der Perspektivlosigkeit von Flüchtlingen widmen können, verschwenden stattdessen aber wertvolle Zeit für eine halbherzige falsche Fährte um den verdächtigen Dr. Arnold (Peter Jordan, Häuserkampf) und breiten die Gefühlswelt der Kommissare aus, die sich bereits in Die Feigheit des Löwen näherkamen. Das wirkt stellenweise unbeholfen und gerät auf der Zielgeraden zu kitschig, geht aber zumindest nicht auf Kosten der Spannung. So wird der scheidenden Petra Schmidt-Schaller nach dem enttäuschenden Bunny-Tatort Frohe Ostern, Falke zumindest ein würdiger Abschied zuteil.

Gänzlich auf diesen verzichten muss Nebendarsteller Sebastian Schipper, der seinem Ärger über die zunehmend überflüssige Rolle als Kumpel-Kommissar Jan Katz Luft machte und prompt vor die Tür gesetzt wurde. Stattdessen gibt es in Verbrannt ein Wiedersehen mit Jungschauspieler Julius Feldmeier – der spielte bereits im Münchner Vorgäner Die letzte Wiesn eine Schlüsselrolle und feiert diesmal einen ganz ähnlichen Abgang.

Bewertung: 6/10

Hier geht jeder für jeden durchs Feuer:

Die letzte Wiesn

Folge: 956 | 20. September 2015 | Sender: BR | Regie: Marvin Kren
Bild: BR/Wiedemann Berg Television/Bernd Schuller
So war der Tatort:

Festlich.

Nachdem Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) 2007 im Tatort A gmahde Wiesn erstmalig Oktoberfest-Luft schnuppern, aber nur inmitten der Vorbereitungen auf das größte Volksfest der Welt ermitteln durften, schickt Regisseur Marvin Kren (Kaltstart) die Münchner Hauptkommissare in Die letzte Wiesn an die Front: Im fiktiven Amperbräu-Festzelt suchen Batic und Leitmayr zwischen Bierbänken und Zapfanlagen  nach einem gefährlichen Serientäter. Der kippt den Atemlos gröhlenden Schunklern heimlich Liquid Ecstasy – kurz GHB – in ihre Maßkrüge, und das führt schon bald zu ersten Toten.

Die Drehbuchautoren Stefan Holtz und Florian Iwersen entwerfen ein unübersichtliches Wimmelbild-Szenario, schöpfen das Potenzial ihrer reizvollen Location aber nicht ganz aus: Mit Einzelgänger Arthur Graensel (Julius Feldmeier, Die Ballade von Cenk und Valerie), der sich mit Alltagsoutfit, Kopfhörern und unerschütterlich ernster Miene allzu stark vom Trachtenvolk abhebt, hat der Zuschauer die gesuchte Nadel im Heuhaufen schnell identifiziert.

Nennenswertes Profil verleihen die Filmemacher dem einsamen U-Bahn-Fahrer auch nicht, und ein nächtlicher Besuch der Kommissare in dessen Wohnung – gurrender Auftritt einer weißen Taube inklusive – driftet gar seltsam ins Groteske ab. Deutlich gelungener ist da eine Stippvisite bei Leitmayr: Der Wiesn-Hasser hat vorübergehend schwedische Zwischenmieterinnen in seiner Wohnung einquartiert, übernachtet spontan in der Badewanne und überrascht eine der beiden Dirndl-Damen prompt bei ihrer Morgentoilette.


LEITMAYR:
Continue.


Die authentisch arrangierte Volksfest-Atmosphäre, in die zuletzt auch die Weimarer Kollegen Lessing (Christian Ulmen) und Dorn (Nora Tschirner) auf dem Rudolstädter Vogelschießen eintauchten (vgl. der Der irre Iwan), bildet die Kulisse für einen stimmungsvollen Krimi, der aber nur selten aus dem konventionellen Schema ausbricht.

Das Drehbuch lässt die Klasse vieler anderer jüngerer Tatort-Folgen aus der Isarstadt (man denke an Der tiefe Schlaf oder Am Ende des Flurs) vermissen, was auch daran liegt, dass die Nebenfiguren nur grob skizziert werden: Besonders zeigt dies der uninspirierte, wenn auch mit reichlich Lokalkolorit durchsetzte Handlungsstrang um die Methoden von Wiesn-Wirtin Kirsten Moosrieder (Gisela Schneeberger), die die Geschäfte ihres verstorbenen Mannes übernommen hat.

Die Filmemacher verleihen weder der aufbrausenden Wirtin, noch ihrem Assistenten Georg Schemberg (Daniel Christensen, Bluthochzeit) oder Restaurantleiter Korbinian Riedl (Leo Reisinger) so viel charakterliche Ambivalenz wie der alleinerziehenden Bedienung Ina Sattler (Mavie Hörbiger, Willkommen in Hamburg). Dieser auffallende Fokus auf die Schlüsselfigur des Films macht den 956. Tatort zu vorhersehbar, wenngleich sich Hörbiger ein Sonderlob verdient: Die Schauspielerin balanciert die vollen Masskrüge gekonnt durchs Mittelschiff und dürfte nach den Dreharbeiten gehörigen Muskelkater verspürt haben.

Während die physischen und psychischen Anforderungen an die gestressten Servicekräfte fein herausarbeitet werdem, fehlt es dem Tatort aber sonst oft an der Substanz: Eher albern wirkt der bemühte Lederhosen-Auftritt von Assistent Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer), und die wagen Mutmaßungen von Fallananalytikerin Christine Lerch (Lisa Wagner) vermitteln den Eindruck, dass die zum Stammcast gehörende Figur noch irgendwie im Tatort untergebracht werden musste. Auch der amüsante Besuch von Batic' kroatischen Tanten, der die Erklärung für den Krimititel Die letzte Wiesn liefert, bringt die Geschichte nicht voran.

So steht unter dem Strich ein eher mittelprächtiger Oktoberfest-Krimi, der seine stärksten Momente direkt an der Festzeltfront hat.

Bewertung: 5/10

Hinter dem Spiegel

Folge: 955 | 13. September 2015 | Sender: HR | Regie: Sebastian Marka
Bild: HR/Degeto/Bettina Müller
So war der Tatort:

Nicht ganz so ausgefallen wie der Vorgänger.

Der zweite Fall von Anna Janneke (Margarita Broich) und Paul Brix (Wolfram Koch) fällt etwas bodenständiger aus als ihr Debüt Kälter als der Tod – und doch ist Hinter dem Spiegel keineswegs schlechter. Waren es beim ersten Einsatz der Frankfurter Hauptkommissare noch die herausragende Inszenierung und die ungewöhnliche Erzähltechnik, bei der die Ermittler in bester Will Graham-Manier mitten in das Geschehen der Vergangenheit versetzt wurden, so ist es diesmal das mit vielen originellen Einfällen gespickte Drehbuch, das Sebastian Markas zweiten Tatort so besonders und sehenswert macht.

Markas erster Tatort Das Haus am Ende der Straße wurde von Kritikern und Publikum gefeiert - Hinter dem Spiegel bleibt zwar etwas hinter dem hochspannenden Abschiedsfall für Hauptkommissar Frank Steier (Joachim Król) zurück, wartet aber mit schrägen Überraschungen auf und spielt mit zahlreichen ungeschriebenen Gesetzen der Krimireihe. So knüpft zum Beispiel der Auftakt – durchaus ungewöhnlich für einen Tatort – direkt an Kälter als der Tod an: Brix muss sich für die Schüsse auf Kindermädchen Miranda Kador (Emily Cox) verantworten und wird zum Innendienst verdonnert.

Antriebsfeder der Geschichte ist aber nicht dieser einleitende Vorfall oder der erhängte Lobbyist, den Janneke kurz darauf in einer Wohnung findet, sondern ein tragisch endender Einsatz aus Brix' Zeiten bei der "Sitte": Ähnlich wie im Berliner Tatort Das Muli, in dem die Filmemacher einen parallel laufenden Handlungsstrang zur Vorgeschichte von Hauptkommissar Robert Karow (Mark Waschke) eröffnen, schlägt Drehbuchautor Erol Yesilkaya (Alle meine Jungs) den Bogen in die Vergangenheit, der sich Brix in Form seines ehemaligen Kollegen Simon Finger (Dominique Horwitz, Der irre Iwan) stellen muss.

Was den 955. Tatort zu einem so reizvollen Krimithriller macht, ist der unterschiedliche Wissensstand aller Beteiligten: Für den Zuschauer ist die schlagfertige Porsche-Fahrerin und Hobby-Fotografin Janneke (Anspielung auf Mark Romaneks Thriller One Hour Photo inklusive) die Identifikationsfigur, weil unklar ist, wieviel Dreck Brix wirklich am Stecken hat.

Kurz nachdem Finger ihn um Hilfe bittet, wird er auch schon von seinem Schwager und Chef Wolfgang Preiss (Justus von Dohnányi, Eine bessere Welt) erschossen. Die Kommissare ahnen nichts – der Zuschauer hingegen ist live dabei. Brix wiederum weiß im Gegensatz zu Publikum und Janneke um seine Vergangenheit, während Dezernatsleiter Henning Riefenstahl (Roeland Wiesnekker) ein anderes Geheimnis hütet. Und Preiss ahnt nicht, dass Janneke und Brix mit dem spielsüchtigen Patty Schneider (Henning Peker, Waidmanns Heil) ein faules Ei in den Korb gelegt haben.

Der ständige Konflikt zwischen Vertrauen, Pflichtbewusstsein und Loyalität prägt das Handeln aller Beteiligten, und dabei verwischen zunehmend die Grenzen zwischen Recht und Unrecht. Dieses prickelnde Katz-und-Maus-Spiel gerät im Mittelteil aber etwas unübersichtlich: Brix, Janneke und Riefenstahl fassen die Ermittlungen zwar in einem zweiminütigen Ergebnissprint zusammen, dürften damit bei vielen Zuschauern aber noch größere Verwirrung stiften. Erst ganz am Ende fügen sich die Puzzlestücke zusammen.

Ein paar Minuten mehr Laufzeit hätten dem Krimi auch gut getan – insbesondere die Hintergründe zum Geldwäsche-Projekt der involvierten Russenmafia um Elena Yusow (Anja Schneider, Ätzend) und Auftragskiller Mischa Grinko (eiskalt: Anton Pampushnyy) werden im Schnellverfahren abgehandelt.

Das Leitmotiv hingegen zieht sich wie ein roter Faden durch den Film: Beginnend beim visuell herausragenden Vorspann, bei dem die typischen Stimmungsbilder der Tatort-Stadt durch eine symmetrische Spiegelung in der Bildmitte entfremdet werden, halten die Filmemacher allen Charakteren den Spiegel vor und schaffen damit eine solide Grundlage für die Weiterentwicklung der Frankfurter Figuren.

Bewertung: 7/10

Ihr werdet gerichtet

Folge: 954 | 6. September 2015 | Sender: SRF | Regie: Florian Froschmayer
Bild: ARD Degeto/SRF/Daniel Winkler
So war der Tatort:

Bemerkenswert brutal. Aufgeplatzte Schädel, Gehirnstückchen auf dem Asphalt und Blutlachen auf heimischen Ehebetten: Ihr werdet gerichtet ist eine der brutalsten Tatort-Folgen aller Zeiten und für die Prime-Time absolut grenzwertig.

Die Schweizer Hauptkommissare Reto Flückiger (Stefan Gubser) und Liz Ritschard (Delia Mayer) bekommen es im ersten Tatort nach der Sommerpause 2015 mit einem Heckenschützen zu tun, und aus dessen Identität macht Drehbuchautor Urs Buehler (Skalpell) kein Geheimnis: Es handelt sich um Michael Kohlhaas-Verschnitt Simon Amstad (Antoine Monot, Jr., Puppenspieler), der in seiner Auto-Werkstatt an einem Scharfschützengewehr herumschraubt und den Titel von "Tech-Nicks" letztem Tatort-Gastspiel zum Motto macht: Er wird töten. Der Autoelektroniker will Gerechtigkeit walten lassen, weil so mancher Luzerner Bürger in seinen Augen von der Schweizer Justiz nicht hart genug bestraft wurde.

Ein kühl kalkulierter und eiskalt vorgetragener Feldzug, der den Ermittlern lange Rätsel aufgibt: Außer den abgesägten Projektilen, in die Amstad Paragraphenzeichen eingraviert, hinterlässt der Täter keine brauchbaren Spuren. Für den Zuschauer stellt sich also nicht die Frage, wer hinter den Anschlägen steckt, sondern ob es Flückiger und Ritschard gelingen wird, den gewieften Killer am Ende zur Strecke zu bringen. Bei diesem prickelnden Wettlauf gegen die Zeit bewahrheitet sich einmal mehr die These, dass Tatort-Folgen, in denen der Täter von Beginn an bekannt ist (vgl. Weil sie böse sind, Der kalte Tod oder Borowski und der Engel), oft die besseren sind: Ihr werdet gerichtet ist bis dato der beste Tatort aus Luzern.

Beim SRF dachte man in den Wochen vor der TV-Premiere allerdings laut über einen Neuanfang nach – und wer wollte es dem Sender nach Rohrkrepierern wie Hanglage mit Aussicht oder Wunschdenken verübeln?

Für die auf der Abschussliste stehenden Kommissare ist ihr achter gemeinsamer Einsatz aber ein Bewerbungsschreiben für weitere Fälle – und nach dem durchwachsenen Vorgänger Schutzlos, der die schwächste Tatort-Einschaltquote seit 2010 einfuhr, eine kleine Kurskorrektur spürbar: Flückers Halluzinationen werden nicht mehr thematisiert, und vor allem der bis dato von allen Drehbuchautoren unerträglich überzeichnete Polizeikommandant Eugen Mattmann (Jean-Pierre Cornu) zeigt sich diesmal wie verwandelt. Statt den Ermittlern grundlos Knüppel zwischen die Beine zu werfen, stärkt er ihnen demonstrativ den Rücken. Das gestaltet sich zwar genauso hölzern wie die Synchronisation des Schweizer Krimis, aber bei weitem nicht so nervtötend wie seine letzen Tatort-Auftritte (insbesondere in Verfolgt).

Auch der Bösewicht überzeugt: Antoine Monot Juniors  zurückgenommenes Spiel unterstreicht das vordergründig hilfsbereite Naturell des Teilzeit-Snipers, der sich zu Hause rührend um seine kranke Frau Karin (Sarah Hostettler) kümmert und schon in der nächsten Sequenz auf den Abzug drückt, ohne mit der Wimper zu zucken. 

Ihr werdet gerichtet ist ein atmosphärisch dichter Thriller mit kleinen Logiklöchern, der von einem stimmungsvollen Soundtrack vorangetrieben wird: Setzt die Musik überhaupt einmal aus, hat das stets einen triftigen Grund. Als Amstad sich nach einer brenzligen Situation in seinen Sessel plumpsen lässt und tief durchpustet, weiß der Zuschauer sofort: Die Verschnaufpause des Killers ist nur ein retardierender Moment vorm dramatischen Finale, in dem Regisseur Florian Froschmayer keine Gefangenen macht. Der Filmemacher weiß eben, wie's geht: Mit Der Polizistinnenmörder schuf er eine der spannendsten Bodensee-Folgen aller Zeiten, und sein starker Berliner Tatort Edel sei der Mensch und gesund brachte Zündstoff in die Diskussion über das deutsche Gesundheitssystem.

Bleibt zu hoffen, dass seiner sechsten Tatort-Arbeit weitere folgen.

Bewertung: 7/10

Schutzlos

Folge: 953 | 5. Juli 2015 | Sender: SRF | Regie: Manuel Flurin Hendry
Bild: ARD Degeto/SRF/Daniel Winkler
So war der Tatort:

Halluzinativ.

Man könnte fast meinen, der Wiesbadener LKA-Ermittler Felix Murot (Ulrich Tukur) hätte sich in den Schweizer Tatort verirrt – schließlich wurde dieser vor allem in der Krimigroteske Das Dorf dank seines Hirntumors von schlimmen Halluzinationen geplagt. In Luzern geht aber nach wie vor Kommissar Reto Flückiger (Stefan Gubser) auf Täterfang: Schon bei der ersten Tatort-Begehung – der nigerianische Flüchtling und Drogendealer Ebi West (Charles Mnene) wird tot unter einer Brücke an einem See aufgefunden – sieht Flückiger eine Ratte vorbeihuschen, die gar nicht existiert, und auch eine Frau am anderen Seeufer scheint er sich nur eingebildet zu haben.

"Ist es ein Tumor?", fragt der von Visionen gepeinigte Kommissar seinen Arzt – doch der gibt Entwarnung, und ein müder Murot-Abklatsch ist wohl auch das Letzte, was den quotentechnisch angeschlagenen Krimi aus Luzern weiterbringen würde. Zwar ließ das SRF ein paar Wochen vor der Erstausstrahlung von Schutzlos durchklingen, dass man bereits an die Zeit nach Flückiger denke, doch nach einer Abschiedsvorstellung sieht sein achter Einsatz nicht aus.

Flückigers verordnete Bettruhe führt vielmehr dazu, dass im 953. Tatort endlich einmal Kollegin Liz Ritschard (Delia Mayer) ins Rampenlicht rückt: Von ihr weiß der Zuschauer bisher eigentlich nur, dass sie auf Frauen steht (vgl. Schmutziger Donnerstag), doch auch in Schutzlos erfährt er über die lesbische Ermittlerin nichts Neues. Selbst Drogenfahnder Franz Hofstetter (Andreas Krämer, Schwelbrand), der Ritschard bei den Ermittlungen im Drogenmilieu unter die Arme greift, spielt sich in Flückigers Abwesenheit stärker in den Vordergrund als die blasse Kommissarin.

Der SRF gesteht Ritschard nach wie vor keinen Wiedererkennungswert zu, und das macht sie als tragende Figur auch in diesem Tatort zu uninteressant und austauschbar. Selbst ihren Solo-Abstecher nach Italien nutzt Regisseur Manuel Flurin Hendry (Satisfaktion), der mit Josy Meier (Zwischen zwei Welten) auch das Drehbuch schrieb, nicht für tiefergehende Charakterzeichnung.

Anders als ihr frisch zum Polizeikommandanten beförderter Chef Eugen Mattmann (Jean-Pierre Cornu), der seinen Status als nervtötendste Figur der gesamten Krimireihe eindrucksvoll untermauert, ist Ritschard aber zumindest kein wandelndes Klischee: Mattmann zeigt sich auch in Schutzlos wieder als völlig instinktfreier, mediengeiler und überzeichneter Vorgesetzter, der den Ermittlern grundlos Knüppel zwischen die Beine wirft.

Die stets bemüht wirkenden Streitgespräche zwischen ihm und den Kommissaren bringen die Geschichte unnötig aus dem Tritt, dabei birgt das Drehbuch großes Potenzial: Es bringt die Perspektivlosigkeit afrikanischer Flüchtlinge in der Schweiz auf den Punkt, denn deren beklemmendes Schicksal wird durch Schlüsselfigur Jola West (Marie-Helene Boyd) greifbar. Die Nigerianerin ist wie das dealende Mordopfer in der Hoffnung auf das große Geld nach Europa geschleust worden und sorgt am Ende doch nur dafür, dass sich der Drogenboss im Hintergrund eine goldene Nase verdient.

Dass sie mit dem Toten ein besonderes Verhältnis verbindet, lassen die Filmemacher lange im Ungewissen – dieser Twist erweist sich aber als zu vorhersehbar, so dass schlussendlich auch die Auflösung nicht überzeugt. Pünktlich zum Showdown steht Flückiger nämlich wieder im Präsidium auf der Matte – und hat natürlich einen entscheidenden Geistesblitz, der den Fall noch einmal in ein völlig neues Licht rückt. So bleibt der Auftritt von Mona Petri (Wunschdenken) als heruntergekommenes Drogenwrack Sascha Zurbuchen das einzige echte Highlight in diesem ansonsten durchwachsenen Tatort aus Luzern.

Bewertung: 4/10