Rebecca

Folge: 971 | 10. Januar 2016 | Sender: SWR | Regie: Umut Dag
Bild: SWR/Patrick Pfeiffer
So war der Tatort:

Stark angelehnt an den realen Entführungsfall von Natascha Kampusch – doch während 2013 nur 144.000 deutsche Kinobesucher Sherry Hormanns filmische Aufarbeitung 3096 Tage sehen wollten, wird Rebecca zum gewohnten TV-Termin am Sonntagabend vor allem dank des Tatort-Labels ein Millionenpublikum zuteil.

Wo Tatort drauf steht, ist zum Jahreswechsel 2015/2016 aber nur bedingt Tatort drin: Erst das vieldiskutierte Wiesbadener Film-im-Film-Experiment Wer bin ich?, dann die beiden Hamburger Actionfeuerwerke Der große Schmerz und Fegefeuer – und auch der 26. Fall der Konstanzer Hauptkommissare Klara Blum (Eva Mattes) und Kai Perlmann (Sebastian Bezzel) ist nicht gerade ein gewöhnlicher Beitrag zur Krimireihe.

Der inhaltlich an Verschleppt oder Abgründe erinnernde Tatort Rebecca ist eine kraftvolle Kreuzung aus Psychodrama, Krimi und Charakterstudie – und zugleich eine eineinhalbstündige One-Woman-Show der herausragenden Hauptdarstellerin. Was die 21-jährige Gro Swantje Kohlhof, die bereits im starken Bremer Tatort Die Wiederkehr als jugendliche Ausreißerin begeisterte, aus ihrer titelgebenden Rolle als verstörtes und verstörendes Entführungsopfer herausholt, ist atemberaubend – und es ist auch ihrem facettenreichen Spiel zu verdanken, dass der Film von Tatort-Debütant Umut Dag nicht früh in die unfreiwillige Komik abdriftet.

 Den Zuschauern bietet sich einleitend nämlich ein bizarres Bild: Erst verbrennt die junge Frau ihren langjährigen Peiniger Olaf Reuter bei lebendigem Leibe, später verkriecht sie sich in der Zimmerecke eines Bauernhauses, und selbst die einfühlsame Klara Blum findet keinen Zugang zu ihr. Dann aber läuft Rebecca Perlmann in die Arme – und kniet plötzlich vor ihm nieder, um die Befehle ihres neuen "Erziehers" zu empfangen. Was der verdutzte Ermittler dem traumatisierten Mädchen auch befiehlt, führt dieses umgehend aus.


PERLMANN:
Setz dich! Iss was!


Es ist eine mutige, anfangs etwas irritierende Geschichte, die Drehbuchautor Marco Wiersch dem Bodensee-Team geschrieben hat, und man muss sich auf sie einlassen – wer das kann, wird mit einem vorzüglich gespielten und auf der Zielgeraden rührenden Drama belohnt. Die Filmemacher tasten sich behutsam an ihre traumatisierte Hauptfigur heran, ohne die furchtbare Geschichte ihrer Gefangenschaft voyeuristisch auszuschlachten. Oft reichen wenige Worte der jungen Frau, um das Grauen im Kopf des Zuschauers lebendig werden zu lassen.

Während Perlmann als Rebeccas neuer Vertrauter und Erzieher wider Willen den ruhenden Gegenpol bildet, zeichnet die sonst so besonnene Blum für die aufbrausenden Momente verantwortlich: Bemerkenswert ist vor allem eine schallende Ohrfeige, die sie ihrem Kollegen nach einem unüberlegten Alleingang verpasst. Wie schon im Vorgänger Côte d'Azur wird man das Gefühl nicht los, dass der SWR den Kommissaren aus Konstanz bis zum näher rückenden Abschied in Wofür es sich zu leben lohnt noch unbedingt einen zwischenmenschlichen Konflikt andichten möchte.

Auch mit der unnahbaren Dr. Schattenberg (Imogen Kogge, Buntes Wasser) kommt es schnell zu Reibereien: Die fachkundige Psychologin grätscht den Kommissaren immer in dem Moment dazwischen, wenn diese kurz davor stehen, Rebecca Informationen zu entlocken. Der 971. Tatort funktioniert nämlich nicht nur als Psychodrama, sondern auch als Whodunit-Abwandlung: Das Mädchen war in seinem Kellerverlies nicht allein, und so entwickelt sich das ungewisse Schicksal ihrer Mitgefangenen zur Antriebsfeder der Ermittlungen.

Weil die Zahl der Nebenfiguren mit Reuters Geschäftspartner Kolb (Serge Falck, Kein Entkommen), seinem Vater Helmut (Klaus Manchen, Borowski und die Frau am Fenster) und Rebeccas Mutter Katja Fischer (Sandra Borgmann, Kaltblütig) überschaubar ausfällt, ist die Auflösung zwar keine große Überraschung – die Nüchternheit, mit der der Täter diese vorträgt, aber zutiefst beklemmend. Selbst Blum kämpft mit den Tränen - und wenn sich die junge Rebecca am Ende von ihrer einzigen echten Bezugsperson verabschieden muss, kullert wohl auch dem einen oder anderen Zuschauer eine Träne über die Wange.


REBECCA:
Ich vermisse dich, Perlmann.


Bewertung: 8/10

10 Kommentare:

  1. Starker Tatort, der bis zur letzten Sekunde fesselte. Schade, dass dies der vorletzte mit den Kommissaren Perlmann und Bluhm war !

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  2. Das war endlich mal wieder ein Tat-Ort! Danke!

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  3. Endlich mal wieder ein gute Film! Keine übertriebene, unrealistische Action und ein Film der einen zum Nachdenken anregt. Familietauglich obendrein.

    Und alles wahrscheinlich auch noch mit überschaubaren Drehkosten.

    Super! Bitte zukünftig wieder mehr davon.

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  4. Endlich mal ein Tatort, bei dem man von der ersten bis zur letzten Minute gefesselt vor dem Fernseher saß. Absolut glaubwürdiges Thema, von den Darstellern hervorragend gespielt.

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  5. Einer der besten Tatorts der letzten Jahre.
    Manipulation von Minderjährigen- schwere Kost.
    Aber eine Handvoll guter Schauspieler schafft es- auch ohne Megaaktion und Ballerei- so ein Thema darzustellen.
    Einfühlsam, menschlich, manchmal fast unbeholfen, dadurch um so glaubhafter. Allen voran "Perlmann" ...einfach Klasse...großes Kino.... Danke

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  6. Ein fesselnder Tatort, so wie ich es noch nie gesehen habe. Jenes Bild mit Perlmann und „Rebecca“ am Schluss hat definitiv einen Eintrag in die bewegensten Tatort-Momente verdient.

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  7. Ein bewegender Tatort, so wie icg es noch nie gesehen habe. Jenes Bild mit Rebecca und Perlmann gehört zu den bewegensten Tatort Szenen die ich je gesehen habe.

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  8. Grandios - leise und eindringlich erzählter Tatort, der nachhaltig bewegt und beeindruckt.
    Schade, dass dieses Gespann gehen muss!

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  9. Ein grandioser Tatort, der mit zahlreichen Tatort-Konventionen bricht. So ist nicht nur die Täterfrage entscheidend, sondern auch das Verhältnis zwischen Perlmann und dem Mädchen, das von Gro Swantje Kohlhof atemberaubend verkörpert wird. Der Zuschauer bzw. die Zuschauerin fühlt besonders mit Perlmann, der die Waage halten muss zwischen Distanzierung und Vertrauensaufbau. Der Konflikt zwischen dem, was richtig ist (erläutert von der Psychologin, die keineswegs böse und der Polizeiarbeit grundsätzlich feindselig gegenüberstehend dargestellt wird), und dem, was das Herz uns suggeriert, wird in jeder Minute tief spürbar, etwa bei der Zusammenführung von Mutter und Tochter. Zusätzlich ist natürlich auch fragwürdig, inwieweit der Polizist die Schwäche und tragische Vorgeschichte des Mädchens ausnutzen darf, um den Fall zu lösen.
    Wie gesagt, ist auch die Täterfrage nicht uninteressant: Dass der wahre Übeltäter keinerlei Reue zeigt, geht sehr an die Nieren.
    Das Ende ist sehr berührend und verkommt nicht zum Kitsch.
    Damit hat dieser Film eine Auszeichnung als herausragender Beitrag zur Tatort-Serie meiner Meinung nach mehr als verdient: 9/10 Punkte.

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