Totenstille

Folge: 972 | 24. Januar 2016 | Sender: SR | Regie: Zoltan Spirandelli
Bild: SR/Manuela Meyer
So war der Tatort:

Gebärdenreich.

In Totenstille wird nämlich unheimlich viel gesprochen – aber weniger mit den Lippen, sondern vor allem mit den Händen. Grimme-Preisträger Peter Probst (Der Traum von der Au), der das Drehbuch gemeinsam mit der gehörlosen Bloggerin Julia Probst schrieb, liefert einen Inklusionskrimi mit großem Drang zur Aufklärung – doch sein mutiger Ansatz wird nur selten in Spannungsmomente umgemünzt.

"Taubstumm sagt man nicht. Das ist genauso diskriminierend wie Zigeuner oder Neger", verbessert die neue Komissaranwärterin Mia Emmrich (Sandra Maren Schneider) den verdutzten Saarbrücker Hauptkommissar Jens Stellbrink (Devid Striesow) schon beim ersten gemeinsamen Außeneinsatz – und überhaupt ist das Bemühen der Filmemacher, mit Vorurteilen aufzuräumen und den Zuschauern die Wahrnehmung gehörloser Menschen näher zu bringen, von Beginn an spürbar. Neben den politisch korrekten Termini lernt das Publikum Folgendes: Taubsein ist relativ, die Gebärdensprache erst seit 2002 offiziell anerkannt und auch Gehörlose schwingen gern mal zum wummernden Hip-Hop-Beat von Missy Elliotts She's A Bitch die Hüften.

Passend dazu kommt beim zu lösenden Mordfall, der eigentlich gar kein Mordfall ist, die Technik des Lippenlesens zum Einsatz: Als Ruth Collignon (Maike Möller), die Geliebte des Bauingenieurs Georg Weilhammer (Martin Geuer), beim wilden Sex im Hotelzimmer an Herzversagen stirbt, entsorgt dieser ihre Leiche in der Saar – und tätigt einen folgenschweren Anruf, den ihm der in der Nähe stehende Gehörlose Ben Lehner (Benjamin Piwko) von den Lippen abliest. Prompt fordert er 10.000 Euro für sein Schweigen, denn Weilhammers Ehefrau Susanne (Nina-Mercedés Rühl) ahnt nichts von der Affäre.

"Auch Hörende haben eine Behinderung – sie können nicht Lippenlesen", gab Co-Autorin Probst, die auch regelmäßig der deutschen Fußballnationalmannschaft auf die Lippen schaut, in einem Interview zu Protokoll – doch Filmemacher Zoltan Spirandelli (Grabenkämpfe), der auch den letzten Saarbrücker Tatort Weihnachtsgeld inszenierte, meistert diese erzählerische Herausforderung.

Sätze in Gebärdensprache werden verbal wieder aufgegriffen, beim hochemotionalen Streitgespräch von Lehner und dessen gehörloser Freundin Ambra Reichert (Ressica Jaksa) schweben Untertitel durchs Bild – und wenn dem Zuschauer der genaue Wortlaut doch mal entgehen sollte, wird dank der eindeutigen Gesten zumindest die Kernaussage deutlich. Als das Geschehen hingegen aus der Perspektive eines Gehörlosen erzählt wird, setzt in einer Szene der Ton aus – ein vielversprechender Ansatz, der leider nicht weiterverfolgt wird.

Wenig dynamisch gestaltet sich auch der Einsatz von Dolmetscherin Kaiser (Mira-Esther Weischet): Viele der ohnehin schon hölzernen Befragungen werden durch das dauernde Übersetzen der Gebärden auf die doppelte Länge gestreckt – da kann Stellbrink nach Feierabend noch so wissbegierig Video-Tutorials im Netz studieren und das Erlernte mit Spurensicherungsleiter Horst Jordan (Hartmut Volle) im Büro anwenden.

Zur langsam aber sicher auftauenden Staatsanwältin Nicole Dubois (Sandra Steinbach), die wie schon in Weihnachtsgeld kaum mehr als drei Sätze sprechen darf, scheint den Verantwortlichen im 972. Tatort hingegen noch weniger einzufallen als zu Hauptkommissarin Lisa Marx (Elisabeth Brück), über deren Privatleben weiterhin nichts bekannt wird. Ganz anders Stellbrink: Der knutscht bei einer Spontanparty mit der kessen Bikerin Kassandra (Kassandra Wedel) und ist auch sonst wieder der eigenwillige Dreh- und Angelpunkt des Films.

Wenn sich der rollerfahrende Kommissar mit schalldichten Kopfhörern auf den Weg ins Präsidium macht, um die Wahrnehmungen gehörloser Menschen besser nachempfinden zu können, entwickelt sich der fünfte Tatort aus Saarbrücken aber vorübergehend zurück zur witzlosen Klamotte – das bescherte schon den ersten beiden Fällen Melinda und Eine Handvoll Paradies vernichtende Kritiken.

Totenstille ist eine ganze Ecke besser – unterm Strich aber lediglich ein (über-)ambitionierter Inklusionskrimi, bei dem Spannung und Charakterzeichnung auf der Strecke bleiben.

Bewertung: 4/10

4 Kommentare:

  1. Die oben besprochene Meinung kann ich nur wiedersprechen. Leider habe ich bei den Rezessionen die hier geschrieben worden sind keine teilen können!!! Dieser Tatort verdient mindestens eine 7 bis 8 als Bewertung. Das Thema ist interessant und nachvollziehbar umgesetzt. Der Kommissar ist ein sympathischer kauziger Typ. Spannung und wendungsreiches Ende. Bitte mehr solche Tatortee als Versuchsballons Marke Tukur.

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  2. Der Kritiker hat wohl Inklusion völlig missverstanden und ist wenig in der Lage, seine eigenen Erwartungen von einer Kritik des Tatortes zu trennen.

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    1. Erwartungen spielen immer eine Rolle, die wurden in diesem Fall aber eher übertroffen. Warum missverstehe ich Inklusion?

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