Friss oder stirb

Folge: 1077 | 30. Dezember 2018 | Sender: SRF | Regie: Andreas Senn
Bild: ARD Degeto/ORF/Daniel Winkler
So war der Tatort:

Verhandlungssicher.

Denn nicht nur die Luzerner Hauptkommissare Reto Flückiger (Stefan Gubser) und Liz Ritschard (Delia Mayer) versuchen sich bei ihrem drittletzten gemeinsamen Einsatz als knallharte Dealmaker: Die Drehbuchautoren Jan Cronauer und Matthias Tuchmann (Dein Name sei Harbinger) haben den Ermittlern für ihre Abschiedstournee einen packenden Geiselnahme-Thriller geschrieben, bei denen alle Beteiligten in bester Verhandlungssache-Manier versuchen, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen.

Dabei sieht anfangs noch alles nach einem Whodunit nach altbewährtem Schema aus, weil die Leiche einer Wirtschaftsprofessorin gefunden wird – und in der folgenden Viertelstunde geschieht dann leider das, was in der Schweiz schon früher auf der Tagesordnung stand und zuletzt durch den handwerklich herausragenden One-Take-Tatort Die Musik stirbt zuletzt etwas in Vergessenheit geriet. Hölzern geschriebene und zugleich lausig synchronisierte Dialoge der Kommissare mit Spurensichererin Corinna Haas (Fabienne Hadorn) stellen die Weichen zunächst in die falsche Richtung, ehe der Film unter Regie von Filmemacher Andreas Senn (Das Recht, sich zu sorgen) zum Glück seine erste von mehreren tollen Kehrtwenden hinlegt.

Denn die Ermittlungen führen Flückiger und Ritschard direkt in die pompöse und sündhaft teuer eingerichtete Villa von Unternehmer Anton Seematter (Roland Koch, bis 2016 fünf Mal als Matteo Lüthi in Konstanz zu sehen): Die Visite der Luzerner Kommissare mündet in die Begegnung zweier Schauspieler, die einst diverse Gastspiele an der Seite der Konstanzer Tatort-Kollegen Klara Blum (Eva Mattes) und Kai Perlmann (Sebastian Bezzel) gaben – zuletzt in Der schöne Schein und in Wofür es sich zu leben lohnt. Das wird im Drehbuch augenzwinkernd gewürdigt.


FLÜCKIGER:
Wo waren Sie gestern Abend?

SEEMATTER:
Gestern? Gestern war Sonntag, da schau ich eigentlich immer Tatort.


Mit dem Eintreffen der Kommissare, die in der Folge ebenso wie Seematter, seine eifersüchtige Frau Sofia (Katharina von Bock) und seine verwöhnte Tochter Leonie (Cecilia Steiner) zu Geiseln des um seinen Job gebrachten Ex-Familienvaters Mike Liebknecht (Misel Maticevic, Die Faust) werden, streift Friss oder stirb das klassische Krimikorsett ab, ohne die Auflösung des Mordfalls dabei aus dem Blick zu verlieren, und entwickelt sich zum spannenden Echtzeit-Thriller, bei dem zu Klängen der Rolling Stones, Johnny Cash oder Nick Cave reichlich Blut fließt und eine überraschende Wendung die nächste jagt.

Die groteske Verhandlung Liebknechts mit Seematter, der dem Geiselnehmer erstmal erklärt, warum seine Forderungen an ihn inflationsbedingt zu gering angesetzt sind, ist dabei nur einer von mehreren aberwitzigen Einfällen und findet im mutigen Drehbuch ebenso den richtigen Platz wie ein wilder Shootout im Keller, die anschließende Verbrüderung zweier schwitzender Männer oder das Gezicke von Rich Kid Leonie, die während der Geiselnahme erstmal eine Line Koks auf dem Klo zieht und später mit Flückiger im Panikraum landet.

Das Charisma anderer Tatort-Geiselnehmer (man denke zum Beispiel an Christian Berkel in Schwarzer Advent, Hinnerk Schönemann in Franziska oder Armin Rohde in Das Haus am Ende der Straße) besitzt Liebknecht freilich nicht, was auch der groben Figurenzeichnung geschuldet ist, und doch bringt man ihm beim dramatischen Showdown fast ein wenig Verständnis für die von langer Hand geplante Verzweiflungstat entgegen: Friss oder stirb ist nicht nur ein spannendes Kammerspiel zwischen eigenwilliger Kunst und eindrucksvollem Prunk, sondern auch ein Tatort über ungleich verteilte Chancen und Privilegien, die keine mehr wären, wenn sie jeder genießen dürfte.

Was den tollen Gesamteindruck der 1077. Tatort-Folge erheblich schmälert, ist neben der dünnen Charakterzeichnung, die hinter Action und Dramatik hintenansteht, vor allem der nervtötende Auftritt des überzeichneten Regierungsrats Eugen Mattmann (Jean-Pierre Cornu), der bei den telefonischen Verhandlungen mit Ritschard über das Zeitfenster fürs geplante Stürmen der Villa zum wiederholten Male unter Beweis stellt (vgl. Zwei Leben, Schutzlos), warum ihm nach dem für 2019 angekündigten Ende des Luzerner Tatorts wohl nur die allerwenigsten Zuschauer eine Träne nachweinen werden.

Bewertung: 8/10

Der Turm

Folge: 1076 | 26. Dezember 2018 | Sender: HR | Regie: Lars Henning
Bild: HR/Degeto/Bettina Müller
So war der Tatort:

Cariddifrei.

Denn bei ihrem achten Einsatz bekommen die Frankfurter Hauptkommissare Anna Janneke (Margarita Broich) und Paul Brix (Wolfram Koch) bereits zum dritten Mal einen neuen Vorgesetzten: Weil Fosco Cariddi (Bruno Cathomas), der im Januar 2017 Henning Riefenstahl (Roeland Wiesnekker) abgelöst hatte, gerade auf einer Tagung weilt, übernimmt Staatsanwalt Bachmann (Werner Wölbern, Nachbarn) kommissarisch die Leitung des Präsidiums.

In dem ist Janneke diesmal aber gar nicht anzutreffen: Nachdem im nächtlichen Bankenviertel der Mainmetropole eine halbnackte Frauenleiche gefunden wird und Brix noch im Stau steht, wagt sich die passionierte Fotografin allein ins Innere des titelgebenden Turmes, wird beim Knipsen im Halbdunkeln niedergeschlagen und landet prompt mit einem Schädel-Hirn-Trauma auf der Krankenstation. Brix muss lange Zeit mit seinem Kollegen Jonas (Isaak Dentler) vorlieb nehmen – der erledigt bei den Ermittlungen die Fleißarbeit im Büro, während sich Brix in bester Wutbürger-Manier im Frankfurter Finanzmilieu und in Streitgesprächen mit Bachmann aufreibt, wie man es bei anderen Kommissaren der Krimireihe schon unzählige Male in variierter Form beobachten konnte.

Auch nach Feierabend lässt ihn Der Turm und das, was sich in seinem Inneren abspielt, aber nicht los: Er fühlt den zwei jungen IT-Nerds und Busenkumpels Jonathan (Rouven Israel) und Bijan (Rauand Taleb, Sturm) auf den Zahn, die für den im Turm ansässigen Finanzdienstleister tätig sind und ihm bei Sushi und Importbier einen Crashkurs in Sachen Microtrading geben.


JONATHAN:
Wir haben gleich beim Mathe-Einführungsseminar gemerkt: Das passt.

BIJAN:
Er hat immer die schlauesten Fragen gestellt.

JONATHAN:
Und er hat sie beantwortet. Da hat der Algorithmus gepasst.


Es sind auch hölzerne Dialogzeilen wie diese, die den 1076. Tatort zu einem der bis dato schwächsten Fälle mit Janneke und Brix machen: Regisseur und Drehbuchautor Lars Henning wagt sich mit dem dubiosen und meist millionenschweren Gebaren im Finanzsektor an ein sperriges Thema, das zum Beispiel in der ZDF-Arte-Serie Bad Banks schon deutlich gekonnter (und packender) aufbereitet wurde als in diesem enttäuschenden und über weite Strecken ziemlich zähen Tatort.

Denn hier erleben wir – dafür sind die beiden IT-Experten das beste Beispiel – fast ausschließlich stereotype Figuren und das große Stochern im Nebel: Die unterkühlt-affektierte Rechtsanwaltin Dr. Rothmann (Katja Flint, Kunstfehler), die ihre finanzkräftigen Investoren und Klienten bei Nachforschungen von Polizei und Aufsichtsbehörden aus der Schusslinie hält, lässt den verärgerten Brix schon bei der ersten Begegnung im Verhörraum eiskalt abblitzen und beim späteren Espresso mit Janneke auch nur das durchklingen, was man ihr in ihrer Funktion als kommissarische Geschäftsführerin der investierenden Firmen nicht zum Nachteil auslegen könnte.

Die auffallend düster in Szene gesetzte, fast durchgehend aus der Froschperspektive fotografierte und fürs Auge undurchdringliche Fassade des titelgebenden Turms (der Hessische Rundfunk drehte den Krimi im mittlerweile abgerissenen Deutsche Bank Investment Banking Center) steht damit exemplarisch für die Mängel des Drehbuchs, denn statt wirklich zum Herzstück seines Themas durchzudringen, kratzt Henning beim Ausflug ins Finanzmilieu Mainhattans nur an der Oberfläche.

Auch die Spannung köchelt trotz der finsteren Inszenierung und der stimmigen Atmosphäre auf Sparflamme: Anders als im mitreißenden Tatort Außer Gefecht, der zu großen Teilen im Münchner Olympiaturm spielte, vermögen die Filmemacher diesem reizvollen Mikrokosmos nur wenig Aufregendes abzugewinnen. Wirklich spannend wird es erst auf der Zielgeraden, als die Ermittler ins Innere des Turmes vordringen – die Auflösung fällt dann allerdings dermaßen unbefriedigend und halbgar aus, dass das kurze Zwischenhoch angesichts der plumpen Moral mit dem Zaunpfahl schnell wieder der Ernüchterung weicht.

Damit entwickelt sich der Fadenkreuzkrimi vom Main nach seinen so konstant überzeugenden Anfangsjahren (vgl. Hinter dem Spiegel oder Die Geschichte vom bösen Friederich) zunehmend zur Wundertüte, weil großartigen Folgen wie dem Vorgänger Unter Kriegern auch immer häufiger Rückschläge wie Land in dieser Zeit oder missglückte Experimente wie der Horror-Tatort Fürchte dich gegenüberstehen. Oder eben Der Turm.

Bewertung: 4/10

Damian

Folge: 1075 | 23. Dezember 2018 | Sender: SWR | Regie: Stefan Schaller
Bild: SWR
So war der Tatort:

Raffiniert arrangiert.

Denn nach seinem tollen Skript zum beklemmenden Saarbrücker Tatort Hilflos, der zu den besten Tatort-Folgen des Jahres 2010 zählte, legt Regisseur und Drehbuchautor Stefan Schaller bei seiner zweiten Arbeit für die Krimireihe einen weiteren Hochkaräter nach: Damian ist nicht nur eine fabelhaft gespielte, sondern vor allem clever verschachtelte Kreuzung aus klassischem Krimi und aufwühlendem Psychodrama, die dem Zuschauer ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit abverlangt.

Wer hier nicht hellwach ist, bleibt angesichts der komplexen Erzählstruktur spätestens bei der Auflösung auf der Strecke, befindet sich dabei aber in guter Gesellschaft: Auch die Freiburger Hauptkommissarin Franziska Tobler (Eva Löbau) und Aushilfskommissar Luka Weber (Carlo Ljubek, ersetzt in diesem Tatort einmalig den erkrankten Hans-Jochen Wagner) schleppen sich übermüdet durch die Ermittlungen, weil sie den Schreibtisch ohnehin voller Arbeit haben und Kripo-Chefin Cornelia Harms (Steffi Kühnert) ihnen gleich vier Todesfälle auf einmal aufs Auge drückt. Ein viele Jahre zurückliegender Mord an einer jungen Frau ist mit dem Doppelmord an einer 17-Jährigen und ihrem Tennislehrer im Hier und Jetzt verknüpft – und dann ist im Schwarzwald auch noch eine Waldhütte abgebrannt, in der die Überreste eines unbekannten Mannes gefunden werden.

Was das alles miteinander zu tun hat, offenbart sich erst auf der Zielgeraden – nicht alles im Leben muss schließlich so einfach gestrickt sein wie der tatverdächtige Bauarbeiter Peter Trelkovsky (köstlich: Johann von Bülow, Der schöne Schein), der seine zwei Schäferhunde kurzerhand ins Jenseits befördert, weil er sie auf Montage nicht hätte versorgen können.


TRELKOVSKY:
Ich wollte nicht, dass die leiden oder hungern.

WEBER:
Glauben Sie nicht, dass es da eine andere Lösung gegeben hätte?

TRELKOVSKY:
Natürlich, hinterher ist man immer klüger...


Was Damian zu einer der stärksten Tatort-Folgen des Jahres 2018 macht und dem Film auch eine Nominierung für den Medienkulturpreis auf dem Festival des deutschen Films bescherte, ist aber nicht nur die Tatsache, dass sich Carlo Ljubek bei seinem Gastspiel so harmonisch ins Schwarzwälder Ensemble einfügt oder der selbsternannte Frauenheld Trelkovsky fast jede Szene stiehlt: Es ist das raffinierte Arrangement der verschiedenen Handlungsebenen (im Stile von Christopher Nolans Meisterwerk Memento) und das Installieren eines großartigen Twists (im Stile von David Finchers Klassiker Fight Club), die dem Zuschauer förmlich den Boden unter den Füßen wegziehen – und die im Vorfeld an verschiedenen Stellen angedeutet werden.

Und natürlich ist es auch die fantastische Performance von Jungschauspieler Thomas Prenn, der seine erste große TV-Rolle als titelgebender Jurastudent Damian bravourös meistert: Seine mitreißende Performance als von Angstzuständen getriebenes, psychisch labiles und am Erfolgsdruck zerbrechendes Mitglied einer Landsmannschaft, das seiner naiven Freundin Mia (Lena Klenke, Fünf Minuten Himmel) weniger anvertraut als seinem geduldigen Kumpel Georg (Enno Trebs, Dinge, die noch zu tun sind), ist allein schon das Einschalten wert.

Und es empfiehlt sich auch unbedingt ein zweites Mal: Seine ganze Klasse entfaltet der 1075. Tatort, dessen außergewöhnliches Drehbuch Stefan Schaller zusammen mit Newcomer Lars Hubrich schrieb, erst nach der zweiten Sichtung – die Anspielungen auf die späteren Aha-Effekte stechen einem dann nur so ins Auge (Beispiele: Prospekt auf dem Schreibtisch, Wasserspender im Präsidium oder Schnaps auf der Studentenparty). Das Chaos in Damians Kopf und an den Wänden seines staubigen Studienzimmers spiegelt sich im Chaos am Arbeitsplatz der Kommissare – und auch der eine oder andere Zuschauer dürfte nach dem Abspann noch ein paar Minuten brauchen, um seine Gedanken neu zu sortieren und das Gesehene in all seiner Komplexität zu verarbeiten.

Einen herben Schönheitsfehler hat Damian dann aber doch: Die überzeichnete Polizeiberaterin Meike Richter (unterfordert: Nora von Waldstätten, Herz aus Eis) wirkt als alberner Sidekick im Präsidium von Beginn an völlig deplatziert und bleibt ihre Daseinsberechtigung für die Geschichte bis zum Schluss schuldig.

Bewertung: 9/10

Vom Himmel hoch

Folge: 1074 | 9. Dezember 2018 | Sender: SWR | Regie: Tom Bohn
Bild: SWR/Alexander Kluge
So war der Tatort:

Wenig weihnachtlich, wenngleich der pfiffige Krimititel, die TV-Premiere im Dezember und die Temperaturen in der Kurpfalz das durchaus nahelegen.

Vom Himmel hoch thematisiert – anders als der vielgelobte Münchner Vorgänger Wir kriegen euch alle – nicht den Besuch des Weihnachtsmannes oder das Fest der Liebe, sondern den Drohnenkrieg und dessen Folgen für die US-Soldaten und zivilen Opfer aus dem Nahen Osten. Der Ludwigshafener Psychiater Dr. Steinfeld hat sich auf die Behandlung von Menschen mit entsprechenden Traumata spezialisiert – und als er eines morgens tot in seiner Praxis liegt, suchen Hauptkommissarin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) und ihre Partnerin Johanna Stern (Lisa Bitter) den Täter im Kreise seiner Patienten.

Ähnlich wie seine Kollegen im Saarbrücker Tatort Heimatfront oder im Leipziger Tatort Todesbilder beschäftigt sich Regisseur und Drehbuchautor Tom Bohn (Kalter Engel) in seiner stimmigen Kreuzung aus klassischem Krimi und politisch angehauchtem Psychothriller mit der Frage, was die persönlichen Erfahrungen im Krieg mit der Seele eines Menschen anrichten können.

Dabei hält sich Bohn, der bei Minute 51 ein nettes Easter Egg in seinem 17. Tatort platziert, eine knappe Stunde lang an die wesentlichen Standardmomente der Krimireihe: Leichenfund zum Auftakt, Befragung der Zeugen und Verdächtigen, Erkenntnisse der Rechtsmediziner und natürlich der obligatorische Konflikt mit dem arroganten Staatsanwalt (hier: Max Tidof, Ein Sommernachtstraum), der den engagierten Kommissarinnen mehrfach in die Ermittlungen grätscht.


ODENTHAL:
Das ist scheiße, Herr Oberstaatsanwalt!

OBERSTAATSANWALT:
Ich weiß, Frau Odenthal.


Mit seinem Psychogramm kratzt Bohn aber nur an der Oberfläche, statt in die Gefühlswelt seiner Figuren vorzudringen: Die Vorgeschichte der depressiven Heather Miller (großartig: Lena Drieschner) illustriert er in trashigen Flashbacks, die die US-Soldatin bei Einsätzen im Drohnenkrieg zeigen, ehe sie sich Stern gegenüber öffnet. Über den tatverdächtigen Mirhat Rojan (Cuco Wallraff), der seine Kinder im Irakkrieg verloren hat, und seinen kurdischen Bruder Martin (Diego Wallraff, Engel der Nacht), erfahren wir dagegen so gut wie nichts: Der tragische Verlust wird auffallend kurz beleuchtet und lässt den Zuschauer entsprechend kalt.

Dabei wäre im Drehbuch Platz für den nötigen Tiefgang gewesen, hätte man woanders gekürzt: Die Eheprobleme von Verhaltenstherapeutin Dr. Christa Dietrich (Beate Maes, Die Liebe und ihr Preis), mit dem sich das Opfer seine Praxis geteilt hat, bringen die Geschichte keinen Deut voran und dienen eher als halbherzige falsche Fährte im Hinblick auf die Auflösung des Mordfalls.

Der ist nach gut 50 Minuten aber geklärt, so dass sich der Film im Schlussdrittel zum spannenden Thriller wandelt und dann auch seine stärksten Momente hat: Ähnlich wie im Dortmunder Meilenstein Sturm, im Hamburger Tatort Zorn Gottes oder im Bremer Flop Der hundertste Affe gilt es für Odenthal und Stern, ein Attentat auf Jason O'Connor (Peter Gilbert Cotton, Zwischen den Fronten) zu verhindern – der Staatssekretär des US-Verteidigungsministeriums will sich in einem Luxushotel mit General Peter Huffing (Jim Boeven) und dem deutschen Verteidigungsminister treffen.

Auch sonst hat sich nach den desaströsen Impro-Experimenten Babbeldasch und Waldlust in Ludwigshafen wieder manches in die richtige Richtung entwickelt: Das nervtötende Gezicke, das den Großteil der Sternschen Einsätze zur anstrengenden Geduldsprobe werden ließ (vgl. LU), ist endgültig Geschichte. Vielmehr schweißt der 1074. Tatort die Kommissarinnen zusammen, und auch Assistentin Edith Keller (Annalena Schmidt) und Kriminaltechniker Peter Becker (Peter Espeloer) werden diesmal sinnvoll in die Handlung eingebunden, statt sie auf Stichwörter zu reduzieren oder der Lächerlichkeit preiszugeben.

Und dann ist da noch die Szene, bei der jedem Fan von Mario Kopper (Andreas Hoppe) warm ums Herz wird: Die dienstälteste Tatort-Ermittlerin schwelgt im Präsidium beim Blick auf das Abschiedsgeschenk ihres Ex-Kollegen in Erinnerungen und verdrückt ein paar Tränen – so wenig elegant sich der Abgang des deutsch-italienischen Kommissars in den letzten Jahren gestaltet hatte, so rührend ist dieser nostalgische Moment, den Stern erst erkennt und dann mit der Sensibilität einer Abrissbirne beendet.


STERN:
Jetzt haste ja mich.


Bewertung: 6/10

Wir kriegen euch alle

Folge: 1073 | 2. Dezember 2018 | Sender: BR | Regie: Sven Bohse
Kritik zum 1073. Tatort "Wir kriegen euch alle" mit Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) aus München.
Bild: BR/Tellux-Film Gmbh/Hendrik Heiden
So war der Tatort:

Blauäugig – und das gleich in mehrfacher Hinsicht.

Denn da ist zum einen die gar nicht mal so niedliche Smartpuppe Senta mit den leuchtenden blauen Augen, die in vielen Münchner Kinderzimmern ein Zuhause gefunden hat – eine Rentnerin, die die Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) tot in ihrer Wohnung finden, hatte das in Deutschland verbotene Spielzeug in Österreich gekauft und an Kinder verschenkt, bei denen sie einen Missbrauch durch die eigenen Eltern vermutete.

Ein bisschen blauäugig aber vielleicht auch von den Drehbuchautoren Michael Proehl (Das Haus am Ende der Straße) und Michael Comtesse (Dein Name sei Harbinger), zu glauben, ein verstörtes Kind würde sich zum Herzausschütten ausgerechnet einer Puppe anvertrauen, deren Augen im Dunkeln so bedrohlich funkeln wie in einem Horrorfilm – Annabelle oder Chucky lassen grüßen.

Und blauäugig agiert in Wir kriegen euch alle auch Assistent Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer) – der will in einer Pressemitteilung zur Suche nach den in München verstreuten Senta-Puppen auf den Zusammenhang mit möglichem sexuellen Missbrauch hinweisen und stößt mit diesem naiven Vorschlag erwartungsgemäß auf wenig Gegenliebe.

Batic und Leitmayr gehen cleverer vor: Nachdem die Eltern der mutmaßlich missbrauchten Lena Faber (Romy Seitz) brutal ermordet werden, schleust sich Batic undercover bei den "Anonymen Überlebenden von Kindesmissbrauch" ein, während Leitmayr dort in offizieller Mission anklopft und bei Gruppenleiter Gerd Schneider (Thomas Limpinsel, Requiem) auf Granit beißt.


LEITMAYR:
Sagen Sie, das ist doch 'ne Gesprächsgruppe hier, oder? Ich finde, dafür reden Sie relativ wenig.


Sechs Wochen nach dem durchwachsenen Cyber-Tatort KI wagen sich die Filmemacher in München erneut an ein digitales Thema – das Bemerkenswerteste am 1073. Tatort sind aber weniger die per App bedien- und leicht manipulierbaren Smartpuppen, sondern der Besuch des Weihnachtsmanns mit Machete, der in Wir kriegen euch alle anstelle von Geschenken den Tod bringt.

Wer glaubt, der Tatort spiele zur passenden Jahreszeit, was angesichts der TV-Premiere am 1. Advent durchaus nahe läge, liegt allerdings falsch: In München herrscht herrliches Frühlingswetter, was die kleinen Kinder, die dem als Santa Claus maskierten Mörder ihrer unter Missbrauchsverdacht stehenden Eltern ahnungslos die Tür öffnen, nicht im Geringsten stört.

Neben solchen Ungereimtheiten offenbaren sich auch Schwächen bei der Figurenzeichnung: Während der stark aufspielende Leonard Carow (Mord auf Langeoog) als psychisch labiler Hasko reichlich Kamerazeit bekommt, spielt der unterforderte Jannik Schümann (Gegen den Kopf) mit dem partyfreudigen Schulabgänger Louis nur die Karikatur eines ungeliebten Sohnes, der den hohen Ansprüchen seines strengen Vaters Volker (Stephan Schad, Herrenabend) nicht gerecht wird.

Wirklich kennenlernen dürfen wir den mit Nerdbrille und Jogginganzug schon rein optisch stark überzeichneten Faulenzer nicht: Seine Liebe zum asiatischen Au-Pair-Mädchen Maggie (Yun Huang) bleibt reine Behauptung und gipfelt in einem unfreiwillig komischen Finale, bei dem ein schwarzer Regenschirm die entscheidende Rolle spielt.

Spaß macht der Film trotzdem, denn die Geschichte fällt zwar nicht sonderlich glaubwürdig aus, wartet aber mit ironischen Zwischentönen und tollen Spannungsmomenten auf: Regisseur Sven Bohse (Borowski und das Land zwischen den Meeren) inszeniert eine vor allem ästhetisch überzeugende Kreuzung aus einem düsteren Missbrauchsthriller mit Horror-Anleihen und einem heiteren Krimi. Trotz des fesselnd in Szene gesetzten und überraschend brutalen Auftaktmords kommt der Humor in der Folge nämlich nicht zu kurz: Zu den spaßigsten Momenten zählen eine spontane Räuberleiter und Batic' verzweifelte Versuche, mit seinem Smartphone ein Mobilfunknetz zu finden, ehe ein Hund seine Pläne durchkreuzt.

Auch die Auflösung ist keineswegs Formsache: Der bemitleidenswerte Hasko, dem die Kommissare ähnlich wie im herausragenden Münchner Fall Der tiefe Schlaf aufgrund einer körperlichen Auffälligkeit auf die Schliche kommen, ist einfach viel zu verdächtig, als dass er als (alleiniger) Mörder infrage käme – und auch der Krimititel im Plural lässt erahnen, dass wohl noch jemand seine Finger im Spiel hat.

Bewertung: 6/10