Friss oder stirb

Folge: 1077 | 30. Dezember 2018 | Sender: SRF | Regie: Andreas Senn
Bild: ARD Degeto/ORF/Daniel Winkler
So war der Tatort:

Verhandlungssicher.

Denn nicht nur die Luzerner Hauptkommissare Reto Flückiger (Stefan Gubser) und Liz Ritschard (Delia Mayer) versuchen sich bei ihrem drittletzten gemeinsamen Einsatz als knallharte Dealmaker: Die Drehbuchautoren Jan Cronauer und Matthias Tuchmann (Dein Name sei Harbinger) haben den Ermittlern für ihre Abschiedstournee einen packenden Geiselnahme-Thriller geschrieben, bei denen alle Beteiligten in bester Verhandlungssache-Manier versuchen, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen.

Dabei sieht anfangs noch alles nach einem Whodunit nach altbewährtem Schema aus, weil die Leiche einer Wirtschaftsprofessorin gefunden wird – und in der folgenden Viertelstunde geschieht dann leider das, was in der Schweiz schon früher auf der Tagesordnung stand und zuletzt durch den handwerklich herausragenden One-Take-Tatort Die Musik stirbt zuletzt etwas in Vergessenheit geriet. Hölzern geschriebene und zugleich lausig synchronisierte Dialoge der Kommissare mit Spurensichererin Corinna Haas (Fabienne Hadorn) stellen die Weichen zunächst in die falsche Richtung, ehe der Film unter Regie von Filmemacher Andreas Senn (Das Recht, sich zu sorgen) zum Glück seine erste von mehreren tollen Kehrtwenden hinlegt.

Denn die Ermittlungen führen Flückiger und Ritschard direkt in die pompöse und sündhaft teuer eingerichtete Villa von Unternehmer Anton Seematter (Roland Koch, bis 2016 fünf Mal als Matteo Lüthi in Konstanz zu sehen): Die Visite der Luzerner Kommissare mündet in die Begegnung zweier Schauspieler, die einst diverse Gastspiele an der Seite der Konstanzer Tatort-Kollegen Klara Blum (Eva Mattes) und Kai Perlmann (Sebastian Bezzel) gaben – zuletzt in Der schöne Schein und in Wofür es sich zu leben lohnt. Das wird im Drehbuch augenzwinkernd gewürdigt.


FLÜCKIGER:
Wo waren Sie gestern Abend?

SEEMATTER:
Gestern? Gestern war Sonntag, da schau ich eigentlich immer Tatort.


Mit dem Eintreffen der Kommissare, die in der Folge ebenso wie Seematter, seine eifersüchtige Frau Sofia (Katharina von Bock) und seine verwöhnte Tochter Leonie (Cecilia Steiner) zu Geiseln des um seinen Job gebrachten Ex-Familienvaters Mike Liebknecht (Misel Maticevic, Die Faust) werden, streift Friss oder stirb das klassische Krimikorsett ab, ohne die Auflösung des Mordfalls dabei aus dem Blick zu verlieren, und entwickelt sich zum spannenden Echtzeit-Thriller, bei dem zu Klängen der Rolling Stones, Johnny Cash oder Nick Cave reichlich Blut fließt und eine überraschende Wendung die nächste jagt.

Die groteske Verhandlung Liebknechts mit Seematter, der dem Geiselnehmer erstmal erklärt, warum seine Forderungen an ihn inflationsbedingt zu gering angesetzt sind, ist dabei nur einer von mehreren aberwitzigen Einfällen und findet im mutigen Drehbuch ebenso den richtigen Platz wie ein wilder Shootout im Keller, die anschließende Verbrüderung zweier schwitzender Männer oder das Gezicke von Rich Kid Leonie, die während der Geiselnahme erstmal eine Line Koks auf dem Klo zieht und später mit Flückiger im Panikraum landet.

Das Charisma anderer Tatort-Geiselnehmer (man denke zum Beispiel an Christian Berkel in Schwarzer Advent, Hinnerk Schönemann in Franziska oder Armin Rohde in Das Haus am Ende der Straße) besitzt Liebknecht freilich nicht, was auch der groben Figurenzeichnung geschuldet ist, und doch bringt man ihm beim dramatischen Showdown fast ein wenig Verständnis für die von langer Hand geplante Verzweiflungstat entgegen: Friss oder stirb ist nicht nur ein spannendes Kammerspiel zwischen eigenwilliger Kunst und eindrucksvollem Prunk, sondern auch ein Tatort über ungleich verteilte Chancen und Privilegien, die keine mehr wären, wenn sie jeder genießen dürfte.

Was den tollen Gesamteindruck der 1077. Tatort-Folge erheblich schmälert, ist neben der dünnen Charakterzeichnung, die hinter Action und Dramatik hintenansteht, vor allem der nervtötende Auftritt des überzeichneten Regierungsrats Eugen Mattmann (Jean-Pierre Cornu), der bei den telefonischen Verhandlungen mit Ritschard über das Zeitfenster fürs geplante Stürmen der Villa zum wiederholten Male unter Beweis stellt (vgl. Zwei Leben, Schutzlos), warum ihm nach dem für 2019 angekündigten Ende des Luzerner Tatorts wohl nur die allerwenigsten Zuschauer eine Träne nachweinen werden.

Bewertung: 8/10

2 Kommentare:

  1. Na endlich mal wieder ein echt guter Tatort. Nachdem die letzten echt mies waren. Mir hat er sehr gut gefallen.

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  2. Einer der besten Tatorte des Jahres, nicht wegen der Prügelszene. Wollten wir zunächst nicht anachauen, aber freuen uns, dass wir es doch "gewagt" haben. Der beste Schweizer Tatort auf jeden Fall!

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