Unter Wölfen

Folge: 1150 | 26. Dezember 2020 | Sender: SWR | Regie: Tom Bohn
Bild: SWR/Jacqueline Krause-Burberg

So war der Tatort:

Kriminell – und das sogar im Hinblick auf die Komparsen.

Für Schlagzeilen sorgte Unter Wölfen nämlich schon während der Dreharbeiten: Unter die Kleindarsteller, die im Film muskulöse Türsteher – pardon: Doormen – spielen, hatte sich glatt ein gesuchter Verbrecher gemischt. Und zwar ein italienischer Kampfsportler, der seit 2014 wegen zahlreicher Straftaten von den Carabinieri gesucht wurde. Wie passend.

Ansonsten geht es im Ludwigshafen-Tatort von 2020 aber weniger italienisch zu als früher: Mario Kopper (Andreas Hoppe) hat bekanntlich den Dienst quittiert und Hauptkommissarin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts), einst Mitbewohnerin des Pasta- und Rotwein-Fans, bleibt nach Feierabend seitdem nur noch ihr Kater Mikesch, der ihr seit Jahrzehnten treu zur Seite steht. Und zumindest in dieser Hinsicht ist Odenthals 72. Fall, der mit trashigen Eröffnungstiteln in Need-for-Speed-Ästhetik startet, ein denkwürdiger.

In der 1150. Ausgabe der Krimireihe heißt es für die dienstälteste Kommissarin nämlich Abschied nehmen: Ihr Kater Mikesch wird brutal massakriert – und auch Odenthal gerät ins Visier organisierter Verbrecher, als sie mit Kollegin Johanna Stern (Lisa Bitter) nach dem vermeintlichen Raubmord am Chef einer Security-Firma gegen dessen Konkurrenten ermittelt.

Gemeinsam mit Stefano Mazza (Roberto Guerra, Zeit der Frösche) vom Mannheimer Rauschgiftdezernat überwachen Odenthal und Stern den Drogenhandel vor Nachtclubs, werden von Kampfhunden angekläfft und befragen finstere Türsteher, die kaum mehr als den Mindestlohn bekommen – selbst wenn sie, so wie der redselige Michael Lasarev (Felix Strobel), nebenher studieren und sich auch einen Nebenjob suchen könnten, der bessere Noten im Abschlusszeugnis erfordert.


STERN:
9,50 Euro? Da kriegt man ja beim Pflegedienst mehr.

LASAREV:
Wer geht schon gerne zum Pflegedienst?


Der Auftritt von Lasarev, dem man seine angeblichen Qualitäten an der Tür für keine Sekunde abkauft, steht exemplarisch für das Grunddilemma dieses missglückten Krimis: Unter all den Schlägertypen wirkt der schmal gebaute BWL-Student wie eine Witzfigur – und unfreiwillig komisch sind auch einige Holzhammer-Charaktere und so manche hanebüchene Phase der Geschichte, die Drehbuchautor Tom Bohn (Maleficius) selbst inszeniert.

Da ist zum Beispiel der fast karikaturesk angelegte Oberstaatsanwalt Marquardt (Max Tidof), der mit Sommeranzug und getönter Brille wie der Pascha von Ludwigshafen durchs Polizeirevier spaziert, um dort nach dem Rechten zu sehen ("Wo ist denn meine Mordkommission?"). Nach der Mittagspausen-Massage geht's direkt zum Vorsprechen beim rheinland-pfälzischen Innenminister.

Da ist eben jener egozentrische Politiker Dr. Lenglich (Nils Düwell, Liebeshunger), der mit Blick auf die Landtagswahlen allein die drohende schlechte Presse im Kopf hat und seine Volontärin (Anne-Marie Lux, Preis des Lebens) entsprechend einweist – natürlich, der Mann muss Dreck am Stecken haben! Ob es im Tatort wohl je einen sympathischen Politiker geben wird?

Da ist die abgehalfterte Bar-Besitzerin Daphne Kerala (Annika Blendl, Wer Wind erntet, sät Sturm), die ihre anstrengende Tochter Tanja (Lucy Bohn, Tochter des Regisseurs) im Bahnhofsviertel Tische wischen lässt, ehe man sie krankenhausreif prügelt: Wie gut, dass bei Odenthal eine Couch für das Mädchen frei ist, denn Dienstvorschriften bricht die Kommissarin ohnehin im Minutentakt. Ein Haftbefehl dient der Kleinen als Schmierzettel.

Und da ist, last but not least, der durchaus charismatische Bösewicht des Films, der in einem bewachten Eisenbahnwaggon residiert – solche Schauplätze mögen zu Western-Schurken und Hollywood-Gangstern passen, wirken bei einem Tatort-Ganoven aber ziemlich drüber. Auch Gerhard Arentzen (Thure Riefenstein) feuert als Klischee auf zwei Beinen mit Plattitüden aus allen Rohren, während Odenthal seine namenlosen Wachleute über den Haufen ballert. 

In bester Nick-Tschiller-Manier berserkert sie sich in Zeitlupe durchs kitschige Finale – doch wie bisweilen in der Elbmetropole wirkt auch am Rhein vieles aufgesetzt, bemüht und künstlich überhöht. Da sitzen aber auch noch Figurenrelikte wie Edith Keller (Annalena Schmidt) im Präsidium, obwohl sie ihre besten Tage längst hinter sich haben. Mit realer Polizeiarbeit hat der temporeiche Krimi wenig zu tun, in seiner Grundausrichtung ist er aber bierernst gemeint – anders als in Weimar, Münster oder Wiesbaden.

Zwei tolle Szenen gibt es aber in Unter Wölfen aber dann doch: Marquardt verweigert dem Minister das "Du" und überrascht auf der Zielgeraden mit Rückgrat – seltene Lichtblicke im nicht nur letzten, sondern auch schwächsten Krimi des starken Tatort-Jahres 2020.
Bewertung: 3/10

Rezension der vorherigen Folge: Kritik zum Tatort "Unten"

Unten

Folge: 1149 | 20. Dezember 2020 | Sender: ORF | Regie: Daniel Prochaska
Bild: ARD Degeto/ORF/Superfilm/Philipp Brozsek
So war der Tatort:

Wie eine Kreuzung aus Platt gemacht und Schattenwelt – aber nicht ganz so enttäuschend wie der Tatort aus Köln und bei weitem nicht so stark wie der Tatort aus München.

Denn während die Auflösung des Falls thematisch an den Hamburger Tatort Leben gegen Leben von 2011 erinnert, mutet die Geschichte ansonsten lange Zeit an wie die genannten Krimis von 2003 und 2009: Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Bibi Fellner (Adele Neuhauser) ermitteln bei ihrem 25. gemeinsamen Fall im Wohnungslosenmilieu – so wie es einst ihre Kollegen Ballauf und Schenk in Köln und Batic und Leitmayr in München taten.

Assistent Manfred "Fredo" Schimpf (Thomas Stipsits), der in Unten zum letzten Mal im Austro-Tatort zu sehen ist (mehr dazu in unserem News-Artikel), harrt nach einem einleitenden Fauxpas recht unauffällig im Präsidium aus, während die Wiener BKA-Ermittler nach dem Mord an dem Obdachlosen Gregor Aigner (Jonathan Fetka) ihre Nasen in Notschlafstellen und Suppenküchen stecken oder Tatverdächtige an tristen S-Bahnhöfen aufspüren.

An diesen und ähnlichen Orten lungern sie herum, die aufmüpfigen Drogendealer Jonathan "Indy" Lechner (Michael Steinocher, Sternschnuppe) und Tina Kranzinger (Maya Unger), hier holen sich die unteren Zehntausend, zu denen auch der tatverdächtige Micha Schmidt (Klaus Huhle) zählt, ihre warme Mahlzeit ab – und hier begegnen Eisner und Fellner auch der schrägen Sackerl-Grete (Inge Maux), einer misstrauischen und wirr daherplappernden, aber irgendwie sympathischen Aussteigerin.

In der Welt der Besserverdiener gibt es ebenfalls Verdächtige: Heimleiter Frank Zanger (Michael Pink, Todesspiel) lebt auf auffallend großem Fuß, die erfolgreiche Chirurgin Dr. Steiner-Reeves (Jutta Fastian, Im Netz der Lügen) hat sogar mal Vaginafleisch in Gesichter transplantiert – und Isabella Aigner (Bettina Ratschew), die Ex-Frau des zu Verschwörungstheorien neigenden Toten, weiß bei der Begegnung mit den Kommissaren wenig Positives über ihren verstorbenen Gatten zu berichten.


FELLNER:
Wie ist es eigentlich genau dazu gekommen, dass der Gregor auf der Straße gelandet ist?

AIGNER:
Seine oder meine Wahrheit?

EISNER:
Wir hören uns immer gern alle Wahrheiten an.


Die Drehbuchautoren Thomas Christian Eichtinger und Samuel R. Schultschik, die ebenso wie Regisseur Daniel Prochaska zum ersten Mal für die Krimireihe am Ruder sitzen, scheinen sich nicht ganz entscheiden zu können: Soll der 1149. Tatort nun ein beklemmender Milieukrimi werden oder ein gemütlicher Whodunit nach bewährtem Rezept? Wirklich tief ins Wohnungslosenmilieu eintauchen tun die Filmemacher selten, und so ist Unten zwar ein ordentlicher Tatort, aber am Ende weder Fisch noch Fleisch. 

Kaum eine Szene tut weh. Kaum ein Einzelschicksal, so es denn überhaupt beleuchtet wird, reißt wirklich mit. Auch Gretes nicht. Da kann sie sich noch so dankbar am Kakao schlürfen, den Eisner und Fellner ihr spendiert haben, oder stolz Familienfotos zeigen, die der Zuschauer nicht zu sehen bekommt. Zu platt bleiben die Charaktere, zu selten dringen wir zum Seelenleben der Figuren durch. 

Vieles wird nur angerissen oder läuft gleich ganz auf Autopilot. So auch der obligatorische SEK-Einsatz auf der Zielgeraden und die obligatorische Standpauke von Sektionschef Ernst Rauter (Hubert Kramar), die diesmal originell variiert wird. Zweifellos ein netter Einfall – aber eben auch nicht mehr. Dass Fellner den Toten von früher kannte, passt ins Bild, denn auch ihre bewegte Vergangenheit war im Wiener Tatort schon viele Male der Anknüpfungspunkt ins Hier und Jetzt. Der Drehbuchkniff funktioniert auch hier wieder passabel.

Ärgerlicher Sozialkitsch ist hingegen der dünne Handlungsstrang um die alleinerziehende Mutter Johanna Wallner (Sabrina Reiter), die mit ihrem Sohn Tobi (Finn Reiter) verzweifelt eine Bleibe sucht und sich Unterkunftsleiter Zanger anvertraut: Seltsam aufgesagt wirken die aufmunternden Worte des Jungen, seltsam künstlich ein erlösender Anruf nach einem Vorstellungsgespräch. Eine auffallend steif arrangierte Szene am Krankenbett bewegt sich dann fast auf Soap-Niveau.

Dass das Schicksal der beiden von Beginn an in Abwesenheit der Kommissare ins Geschehen eingeflochten wird, lässt nur einen Schluss zu: Es wird am Ende noch wichtig, und so ist die Täterfrage leicht zu beantworten. Auch daran muss sich dieser klassische Whodunit, bei dem es pünktlich nach einer Dreiviertelstunde die zweite Leiche zu beklagen gibt, messen lassen. 

Die Krimis aus Österreich – wir denken an Highlights wie Ausgelöscht, Falsch verpackt oder Kein Entkommen, die freilich noch weitere Stärken hatten – hat man schon stärker gesehen. Eisner und Fellner sind längst im Mittelmaß angekommen – und nach dem ordentlichen Pumpen und dem soliden Krank macht auch der dritte Wiener Tatort binnen vier Monaten nicht den Eindruck, als würde sich daran so schnell etwas ändern.
Bewertung: 5/10

Rezension der vorherigen Folge: Kritik zum Tatort "Es lebe der König!"

Es lebe der König!

Folge: 1148 | 13. Dezember 2020 | Sender: WDR | Regie: Buket Alakus
Bild: WDR/Thomas Kost

So war der Tatort:

Ritterlich.

Denn Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) und Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) müssen in ihrem 38. Fall den Mörder eines Burgherrn in einer Ritterrüstung finden – und ermitteln unter Regie von Tatort-Debütantin Buket Alakus in dessen heiligen Hallen.

Gedreht wurde Es lebe der König! in einer ehemaligen kurkölnischen Landesburg, im Schloss Hülchrath, das zum "Haus Lüdecke" und Mikrokosmos für den Mordfall wird: Im knietiefen Wassergraben liegt einleitend der ermordete Manfred Radtke (Anthony Arndt) – und Thiel pendelt in der Folge zwischen Präsidium und Burg, weil der Mörder offenbar zwingend dort zu finden sein muss. So einfach kann ein Whodunit gestrickt sein.

Auch Boerne bewegt sich in bekannten Gefilden und sogar rhythmisch im Takt: Der eitle Forensiker schmeißt sich in der Leichenhalle spontan in die Ritterrüstung, macht sich zu den Klängen von Michael Jacksons Bad zum Affen und bittet Silke "Alberich" Haller (Christine Urspruch) um ein "Selfie" – das ja eigentlich so heißt, weil man es selbst schießt. Seine zum Fremdschämen einladende Tanzeinlage ist zugleich der Tiefpunkt eines stets nach altbekannten Mustern ablaufenden und mit den üblichen Witzchen gespickten Schmunzelkrimis, der um Längen hinter dem mutigen Vorgänger Limbus zurückbleibt.

Denn all das, was in Limbus mal für eine originelle Geschichte hintenanstehen musste, wird im 1148. Tatort wieder genüsslich durchexerziert: Staatsanwältin Wilhelmine Klemm (Mechthild Großmann), die mit dem neugierigen Kollegen Lutz Söltenfuss (Christian Hockenbrink) aneinandergerät, zieht an ihrer Zigarette, Taxifahrer Herbert "Vattern" Thiel (Claus Dieter Clausnitzer) am Joint und Boerne über Alberich her. Bei einer ausufernden Debatte über Die Wiedertäufer von Münster – ein durchaus interessanter historischer Exkurs – muss ihre geringe Körpergröße fast 20 Jahre nach dem Erstling Der dunkle Fleck noch immer für die gleichen Frotzeleien herhalten.


ALBERICH:
Ich hatte damals Alpträume davon. Also, Jan van Leiden, der hat ja während der Belagerung die Vielweiberei eingeführt – und dann eine seiner 18 Ehefrauen wegen Ungehorsam eigenhändig 'n Kopf kürzer gemacht.

BOERNE:
Das wäre natürlich in Ihrem Fall wirklich problematisch.


Enttäuschend ist Es lebe der König! auch im Hinblick auf Thiels rechte Hand Mirko Schrader (Björn Meyer): Drehbuchautor Benjamin Hessler (Spieglein, Spieglein) schreibt dem Nachfolger der im Impro-Tatort Das Team verstorbenen Nadeshda Krusenstern (Friederike Kempter) praktisch nur zwei besondere Charakteristika auf den Leib – er legt Wert auf das Einhalten der Vorschriften und hegt eine ausgeprägte Leidenschaft für die Zubereitung des perfekten Bürokaffees. Assistent eben. Einfallsloser geht's kaum.

Schraders Schattendasein offenbart sich vor allem auf der Zielgeraden, bei der nicht etwa er als Polizeibeamter, sondern Rechtsmediziner Boerne, Assistentin Alberich und Juristin Klemm eine Beschattungsaktion durchführen: Während die Stammfiguren – fernab jeder Realitätsnähe, die man im Münster-Tatort ohnehin ausblenden sollte – an vorderster Front auf Verbrecherjagd gehen, harrt Schrader allein im Präsidium aus und muss per Funkkontakt für flache Wortwitze herhalten ("Da, wo Mirko-USB steht! Äh nein, Mikro-USB!").

Die Nebenfiguren im Umfeld des Burgherrn bleiben ebenfalls blass: Die großartige Sandra Borgmann (Rebecca) wird in der Rolle der trauernden Tochter Claudia Radtke nach dem hochemotionalen Auftakt kaum noch gefordert. Marek Harloff (Rebland) und Violetta Schurawlow (Wo ist nur mein Schatz geblieben?) mühen sich in ihren platten Rollen als Tobias und Farnaz Radtke zwar nach Kräften, sind aber letztlich Gefangene eines Drehbuchs, das ihnen kaum Platz zur Entfaltung einräumt. Besonders Farnaz, die immerhin ihren Gatten verloren hat, wirkt seltsam teilnahmslos. Eher überzeichnet agieren Justine Hauer – wir kennen sie noch als "Beckchen" im Bodensee-Tatort – als Burg-Vorbesitzerin Clarissa von Lüdecke und Mai Duong Kieu als Undercover-Ermittlerin Rosemarie Sieber. 

Die Bühne gehört ansonsten Boerne und Thiel, der sich Häme über seinen wilden Bartwuchs gefallen lassen muss und auf der Zielgeraden in eine Theateraufführung platzt, bei der aufgrund der Corona-Pandemie nicht mal Statisten im Saal sind. Das alles wirkt künstlich, albern und durchgeplant und ist nach dem seichten Schlussakkord auch direkt wieder vergessen. Die wenigen gelungenen Gags – etwa die Sichtung eines Sextapes, bei dem Thiel und Schrader vor Ekel kaum hinsehen können – lassen sich an einer Hand abzählen. Spannung will auch beim konstruierten (und im Nachklapp umständlich erklärten) Showdown kaum aufkommen. 

Damit ist der Tatort aus Münster nach dem überraschenden Zwischenhoch im November 2020 schon einen Monat später wieder in der Spur – und man muss sagen: leider.
Bewertung: 4/10

Rezension der vorherigen Folge: Kritik zum Tatort "Die Familie (2)"

In der Familie (2)

Folge: 1147 | 6. Dezember 2020 | Sender: BR | Regie: Pia Strietmann
Bild: BR/WDR/X Filme Creative Pool GmbH/Hagen Keller
So war der Tatort:

Mafiös, zum Zweiten.

Denn in Teil 2 der großartigen Doppelfolge zum 50-jährigen Tatort-Jubiläum bekommen es die Ermittler ein weiteres Mal mit der 'Ndrangheta zu tun – doch anders als im Vorgänger In der Familie (1) lautet der Schauplatz diesmal nicht Dortmund, sondern München.

In die Stadt an der Isar hat es gleich zwei Mörder verschlagen, die in Teil 1 nicht gefasst werden konnten: In der stimmungsvollen Eröffnungssequenz auf einer Brücke im Wald begegnen wir wieder dem aufbrausenden Italiener Giuseppe "Pippo" Mauro (Emiliano De Martino), der einen Drogendealer auf dem Gewissen hat, und Pizzabäcker Luca Modica (Beniamino Brogi), der seine Frau Juliane erwürgen musste, weil ihm die Mafia keine Wahl ließ.

Die dritte Leiche lässt nicht lange auf sich warten.

Auch Lucas Tochter Sofia (Emma Preisendanz) – beim Hinspiel eher am Rande in Erscheinung getreten – ist mit Pippo und Papa in einer kleinen Wohnung in München untergekommen. Und anders als bei ihrem ersten Auftritt hieven sie Drehbuchautor Bernd Lange und Regisseurin Pia Strietmann (Unklare Lage) im zweiten Teil der atmosphärisch unheimlich dichten Mafiatragödie auf die große TV-Bühne: Sofia weiß weder, dass ihre Mutter tot ist, noch um die Täterschaft ihres Vaters – und sie setzt alles daran, es in Erfahrung zu bringen.

Ihr Unwissen ist lange Zeit der zentrale Konflikt in einer hochemotionalen Tatort-Folge, die mit vielen Konventionen bricht und in der die Kündigung von Nora Dalay (Aylin Tezel) nicht mehr thematisiert wird: Der Dortmunder Hauptkommissar Peter Faber (Jörg Hartmann), der die Hauptschuld an ihrem Ausstieg und an Modicas Tod trägt, reist allein mit sich und seiner Schuld nach München, um den Fall abzuschließen. Willkommen ist er dort aber nur bedingt, denn die bayrischen Platzhirsche Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) begegnen ihm zwischenzeitlich mit Skepsis.


BATIC:
Sollen wir den Faber anrufen?

LEITMAYR:
Na. Wir haben schon genug Tote.


Zwischen den Kommissaren läuft das Zusammenspiel diesmal flüssiger als im Vorgänger, in dem Batic und Leitmayr bisweilen wie das fünfte Rad am Dortmunder Wagen wirkten – es war daher die richtige Entscheidung, nicht das ganze Ermittlerquartett aus dem Ruhrpott nach Bayern zu schicken. Dort sorgt das Wiederauftauchen einer "entführten" BVB-Tasse ebenso für kleinere Lacher wie Fabers amüsante Begegnungen mit Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer, der uns im sehr lesenswerten Interview mehr über das Zusammenspiel mit Jörg Hartmann verriet).

In der Familie (2) ist auch in den Nebenrollen hervorragend besetzt: Während Neuentdeckung Emma Preisendanz in ihrer ersten großen TV-Rolle über sich hinauswächst, gibt Paolo Sassanelli (Kopper) den eiskalten Paten Domenico Palladio. Ein starker Auftritt, der bei einer Imbissbegegnung mit den Kommissaren seinen ersten Höhepunkt erreicht. Das Vokabular ist derb, die Gangart brutal – wer sich auf einen gemütlichen Whodunit nach Schema F gefreut hat, der sitzt erneut im falschen Film. Besonders in der ersten Filmhälfte findet vieles hinter dem Rücken der Kommissare statt.

Ohne Kenntnisse des Vorgängers In der Familie (1) hängt man als Zuschauer aber in der Luft: Keine Rückblenden, keine Erklärungen, keine Neueinführung der Figuren. Sie wurden im ersten Teil ausführlich skizziert. Die Charaktere, die neu dazukommen – wie Baudezernatsleiter Martin Hainer (Florian Brückner, Im Alleingang) oder Bauunternehmer Willi Sailer (Rainer Haustein) – bleiben eher blass und stereotyp. Ein kleiner Schwachpunkt des Films.

Ähnlich verhält es sich auf Seiten der Mafia: Die Filmemacher gestehen der charismatischen Unterweltgröße Domenico Palladio ähnlich viel Kamerazeit zu wie den Modicas in Teil 1, seiner Frau Claudia (Barbara Romaner) und seinem Sohn Marc (Valentin Mirow) bleibt aber deutlich weniger Spielraum – und so entwickeln die Begegnungen mit der verzweifelten Sofia nicht ganz die Intensität, die vielleicht möglich gewesen wäre.

Dennoch reift die 1147. Tatort-Folge schnell zum mitreißenden Krimidrama, das in ein ebenso aufwühlendes Finale mündet wie der starke Vorgänger, und in dem der Schlussakkord auf einer Landstraße ähnlich eigenwillig ausfällt wie im Münchner Tatort-Meilenstein Frau Bu lacht. Den inszenierte 1995 (ebenso wie Teil 1 dieser Doppelfolge) Dominik Graf – im Hinblick auf die Regie von Pia Strietmann ist in der Fortsetzung im Übrigen kein Qualitätsverlust zu erkennen. 

In der Familie (2) hat Wucht, hat Spannung und hat Herz – da freut man sich doch direkt auf die nächsten 50 Tatort-Jahre.

Bewertung: 8/10

Rezension der vorherigen Folge: Kritik zum Tatort "Die Familie (1)"

In der Familie (1)

Folge: 1146 | 29. November 2020 | Sender: WDR | Regie: Dominik Graf
Bild: WDR/Frank Dicks
So war der Tatort:

Mafiös, zum Ersten.

Denn Filmemacher Dominik Graf, der schon große Tatort-Highlights wie Frau Bu lacht inszenierte, holt zum 50-jährigen Jubiläum der Krimireihe die kalabrische Mafia nach Dortmund – und das hat dramatische Folgen für alle Beteiligten.

Damit aber nicht genug: Für Teil 1 des Zweiteilers In der Familie, der exakt fünf Jahrzehnte nach dem ersten Tatort Taxi nach Leipzig ausgestrahlt wird, ermitteln zwei Teams Seite an Seite, die sich unter normalen Umständen nie begegnet wären. Die Dortmunder Kommissare Peter Faber (Jörg Hartmann), Martina Bönisch (Anna Schudt), Nora Dalay (Aylin Tezel) und Jan Pawlak (Rick Okon) begrüßen die Münchner Ermittler Ivo Bativ (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) im Ruhrpott.

Ganz neu ist weder die eine, noch die andere Idee: Einen Zweiteiler gab es mit Wegwerfmädchen und Das goldene Band bereits 2012 in Hannover und auch Crossover-Folgen hat der Tatort seit 1970 schon viele gesehen – unter anderem mit den Leipziger und Kölner Ermittlern in Kinderland und Ihr Kinderlein kommet. Unterhaltsam war die innerdeutsche Völkerverständigung aber immer, und das ist im 1146. Tatort nicht anders.

Dabei findet die erste Krimihälfte praktisch ohne die Münchner Kommissare statt: Zwar werden wir einleitend Zeuge dessen, wie Batic einen tödlich verwundeten Dealer retten will, doch spielt der Rest des Geschehens in Dortmund: Faber & Co. beschatten eine Pizzeria, die von der italienischen Mafia als Drogenumschlagsplatz genutzt wird.

In eben jenes Lokal verschlägt es auch den Mörder des Dealers, der zwischen Nudelpaketen und Pastasoße in einem Lieferwagen von München nach Westfalen geflüchtet ist: Giuseppe "Pippo" Mauro (Emiliano De Martino) taucht bei Pizzeriabesitzer Luca Modica (Beniamino Brogi) und dessen Frau Juliane (Antje Traue) unter – und Batic und Leitmayr stehen bald mit einem Haftbefehl im Dortmunder Präsidium der Kollegen auf der Matte.


FABER:
Hätte ich gewusst, wir haben Besuch, hätte ich Kuchen mitgebracht.


Bis zu diesem Zeitpunkt verlangen Regisseur Dominik Graf, der für seine sperrigen Krimis bekannt ist (vgl. Aus der Tiefe der Zeit), und Drehbuchautor Bernd Lange (Goldbach), der auch das Skript zur Fortsetzung In der Familie (2) geschrieben hat, dem Publikum aber einige Geduld ab. Wer den Tatort seit Jahrzehnten schaut und sich vom Jubiläum einen gemütlichen Whodunit nach altbewährtem Erfolgsprinzip erhofft, der erlebt eine herbe Enttäuschung.

Die Täterfrage wird gar nicht gestellt, zahlreiche Dialoge werden untertitelt und auch die erzählerischen Methoden weichen von den Mustern ab, die die Stammzuschauer seit 1970 in aller Regel zu sehen bekamen. Wie es sich für ein großes Mafiadrama gehört, spielen die Ermittler oft nur eine untergeordnete Rolle: Die Filmemacher nehmen sich viel Zeit für die Einführung ihrer Kontrahenten und begleiten Pippo, das Ehepaar Modica und ihre Tochter Sofia (Emma Preisendanz) in Abstinenz der Kommissare durch ihren neuen Alltag.

Eine solch sorgfältige Einführung der Charaktere kennt man eher aus seriellen Formaten, die dramaturgisch anders funktionieren – und das drückt in der ersten Filmhälfte gehörig auf die Spannung. Der Ermittlungsarbeit fehlt anfangs der Drive, den kleineren Scharmützeln im Präsidium der Biss – und so besteht der größte Reiz bis zur Ankunft von Batic und Leitmayr darin, dem wenig zimperlichen Pippo bei seiner Vorstellungsrunde in der Unterwelt zuzuschauen und sich die Frage zu stellen, wann Dalay wohl ihr schlecht getarntes Mikro bei einer Abhöraktion zum Verhängnis wird.

Doch das Dranbleiben lohnt sich, denn die ausführliche Figurenzeichnung zahlt sich auf ganzer Linie aus. Mit der Ankunft der bayrischen Kollegen kommt Dynamik ins Geschehen, was aber weniger daran liegt, dass die Kommissare sich aneinander abarbeiten würden: Die Zusammenarbeit mit Faber – nicht unbedingt selbstverständlich – gestaltet sich relativ geräuschlos. Für größere Zankereien bleibt auch keine Zeit, denn Teil 1 des Zweiteilers soll als Tatort für sich allein funktionieren und steuert auf ein hochdramatisches Finale zu.

Auf der Zielgeraden gewinnt auch der Konflikt zwischen Faber und Dalay, die ihrem Chef in diesem Fall (zu) viel Vertrauen schenkt, gehörig an Intensität. Denn In der Familie (1) ist nicht nur ein stark inszenierter Jubiläumskrimi, der Lust auf Teil 2 weckt – es ist auch der letzte Tatort mit Aylin Tezel, die nach ihrem überragenden Auftritt im Tatort-Meilenstein Sturm erneut zeigen darf, was schauspielerisch in ihr steckt.

Das darf in überschaubarem Maße auch Moritz Führmann (Das fleißige Lieschen), der Staatsanwalt Matuschek spielt: Nach seinen Auftritten als kettenrauchender Regisseur in der köstlichen Mockumentary How To Tatort und als zwielichtiger Autohändler in Die Ferien des Monsieur Murot ist der Ehemann von Hauptdarstellerin Anna Schudt bereits zum dritten (!) Mal binnen zehn Tagen für die Krimireihe im Einsatz.

Bewertung: 8/10

Rezension der vorherigen Folge: Kritik zum Tatort "Die Ferien des Monsieur Murot"

Die Ferien des Monsieur Murot

Folge: 1145 | 22. November 2020 | Sender: HR | Regie: Grzegorz Muskala
Bild: HR/Bettina Müller

So war der Tatort:

Inspiriert von Jaques Tati und Edgar Allan Poe.

Denn Die Ferien des Monsieur Murot ist zwar vordergründig eine Hommage an Jaques Tatis heitere Sommerkomödie Die Ferien des Monsieur Hulot von 1953 – doch ähnelt die Grundidee der neunten Tatort-Folge mit LKA-Ermittler Felix Murot (Ulrich Tukur) eher Erich Kästners Das doppelte Lottchen und einer Kurzgeschichte von Edgar Allan Poe, die 1968 im Episodenfilm Außergewöhnliche Geschichten den Weg auf Zelluloid fand.

Nicht von ungefähr liegt in der zweiten Einstellung des Krimis ein William Wilson-Buch auf Murots Schreibtisch: Regisseur Grzegorz Muskala, der mit Ben Braeunlich (Borowski und das Land zwischen den Meeren) auch das Drehbuch zu seinem ersten Tatort geschrieben hat, erzählt eine reizvolle Doppelgänger-Story, wie wir sie im Kino auch aus John Woos Action-Reißer Face/Off, Sean Ellis' Psychothriller The Broken oder Christopher Nolans Meisterwerk Prestige kennen.

Aber auch die Fans von Monsieur Hulot erleben so manches Déjà-vu: Murot spannt im Taunus ein paar Tage aus – und auf der Hotelanlage stellen die Filmemacher zu den Klängen von Alain Romans' Originalmusik unter anderem das legendäre Tennismatch nach. Hulots spezielle Aufschlagtechnik ist auch für Murot der Schlüssel zu Spiel, Satz und Sieg.

Der 1145. Tatort erschöpft sich aber nicht im Kopieren von Vorbildern – und das spricht sehr für das Konzept des Hessischen Rundfunks, der bereits in den großartigen Vorgängern Angriff auf Wache 08, Im Schmerz geboren oder Das Dorf viele filmische Querverweise platzierte. Die Ferien des Monsieur Murot ist auch ein spannender und pfiffiger Sommerkrimi, bei dem der Kommissar gewissermaßen undercover ermittelt.

Als Murot seiner daheim gebliebenen Kollegin Magda Wächter (Barbara Philipp) auf der Hotelterrasse eine Ansichtskarte schreibt, begegnet er nämlich dem Autohändler Walter Boenfeld (Ulrich Tukur in einer Doppelrolle), der sein Zwillingsbruder sein könnte – und nach einem großen Hallo und mindestens drei Flaschen Wein tauschen die beiden spontan ihre Rollen. Dumm nur, dass Boenfeld in Murots Sommeranzug (samt Ausweis in der Tasche) von einem Auto totgefahren wird – und Wächter ihren vermeintlich ermordeten Chef in der Gerichtsmedizin identifizieren muss.


WÄCHTER:
Mir kommt er so fremd vor.


Nach diesem Todesfall, der an die Morde im Bremer Tatort Nachtsicht von 2017 erinnert, ist es am echten Murot, seinen eigenen Mörder zu fassen – und was im Anschluss folgt, ist ein Verwirr- und Verwechselspiel der unterhaltsamsten Art. 

Das liegt neben dem wendungsreichen Drehbuch auch an der herausragenden Darbietung von Ulrich Tukur, der seinen ganzen Facettenreichtum in die Waagschale wirft: Der Hauptdarsteller switcht mühelos zwischen dem verschmitzt-irritierten Polizisten, dem quirlig-extrovertierten Autohändler und dem leidenschaftlichen Junggesellen, der ein Auge auf die psychisch labile Gattin seines verstorbenen Doppelgängers geworfen hat. Ganz großes Kino. 

Eingefleischten Fans der Krimireihe dürfte das Wechselspiel, das sich bei Traumsequenzen in der Sauna und vorm Badezimmerspiegel fortsetzt, bekannt vorkommen: Im grandiosen Film-im-Film-Experiment Wer bin ich? begegnete die Figur Murot bereits dem Schauspieler Tukur – und täuschend echte Doppelgänger gab es zuletzt 2019 in Spieglein, Spieglein.

Anders als der wenig originelle Beitrag aus Münster langweilt Die Ferien des Monsieur Murot aber zu keiner Minute, weil die Spannung gleich von drei Fragen am Leben erhalten wird: Wer hat Autohändler Boenfeld kaltblütig ermordet? War es seine verhasste Frau Monika (stark: Anne Ratte-Polle, Narben), mit der Murot vorübergehend Haushalt und Bett teilt, oder hat sie etwas Anderes zu verbergen? Und wird Murots Tarnung auffliegen?

Der Weg zu den Antworten ist gesäumt mit brenzligen Momenten, köstlicher Situationskomik und überraschenden Enthüllungen, die Murot bei seinen heimlichen Recherchen zutage fördert. Beim Grillabend mit den undurchsichtigen Nachbarn Birgit (Carina Wiese, Das perfekte Verbrechen) und Peter Lessing (Thorsten Merten, spielt Kripochef Kurt Stich im Weimarer Tatort) muss der Kommissar erstmalig Farbe bekennen – und das bereits erwähnte Tennismatch lässt erahnen, dass auch in der Ehe der Lessings viel im Argen liegt.

Den ganz großen Clou gibt es in diesem Tatort aber nicht – an manch anderes Krimi-Meisterwerk aus Hessen reicht der toll fotografierte Film damit unterm Strich nicht ganz heran. Auch echten Thrill, wie ihn der Zuschauer eine Woche zuvor im Horror-Tatort Parasomnia aushalten musste, sucht man vergebens. Und dass experimentierscheue Krimi-Puristen nur bedingt auf ihre Kosten kommen, versteht sich fast von selbst – das hat den Hessischen Rundfunk aber noch nie geschert, und das ist auch gut so.

Bewertung: 8/10

Rezension der vorherigen Folge: Kritik zum Tatort "Parasomnia"

How To Tatort

Bild: Radio Bremen/btf
Seit dem 20. November steht die sechsteilige Mockumentary-Serie "How To Tatort" mit den neuen Bremer Tatort-Kommissaren Dar Salim, Luise Wolfram und Jasna Fritzi Bauer in der ARD-Mediathek zur Verfügung. Wir verraten, ob sich das Einschalten lohnt.


Bis zum offiziellen Tatort-Debüt der Bremer Ermittler Liv Moormann (Jasna Fritzi Bauer), Mads Andersen (Dar Salim) und Linda Selb (Luise Wolfram) müssen wir uns noch ein wenig gedulden: Die TV-Premiere ihres ersten Falls mit dem Arbeitstitel Neugeboren, der Anfang Dezember abgedreht wurde, hat die ARD für Pfingsten 2021 angekündigt.

Bereits am 20. November ist als Vorgeschmack auf das neue Team die Mockumentary-Serie How To Tatort in der Mediathek erschienen – und in der skizziert Regisseurin Pia Hellenthal in sechs humorvollen Folgen mit einer Länge zwischen 8 und 13 Minuten, wie die drei Schauspieler für ihre Rollen als Tatort-Kommissare fit gemacht werden.

Der zweiminütige Trailer, den Radio Bremen im Dezember 2019 nach der Vorstellung seiner neuen Hauptdarsteller veröffentlichte, ließ bereits erahnen, wie gut die drei harmonieren – und dieser Eindruck bestätigt sich auch in der Miniserie schon nach wenigen Minuten.


Die Drehbuchautoren Sebastian Colley, Tarkan Bagci und Dennis Eick setzen auf ein erzählerisches Prinzip, das wir aus der Erfolgsserie Stromberg kennen: Vermeintlich dokumentarische, oft zum Fremdschämen einladende Szenen im Produktionsbüro und bei Außeneinsätzen werden parallel zu Statements montiert, in denen die Schauspieler in bester Reality-Show-Manier getrennt voneinander einem Interviewer im Off ihr Herz ausschütten.

Da ist zum einen Luise Wolfram, die in ihrer Rolle als BKA-Kollegin Linda Selb bereits sechsmal an der Seite ihrer Bremer Tatort-Vorgänger Inga Lürsen (Sabine Postel) und Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) zu sehen war (zuletzt in Wo ist nur mein Schatz geblieben?) – und die offenbar gar keine Lust darauf hat, das Rampenlicht nun erneut teilen zu müssen.

Dann ist da Jasna Fritzi Bauer, die im neuen Tatort von der Weser trotz ihrer geringen Körpergröße eine respektseinflößende Kriminalkommissarin spielen soll – und die eigentlich viel lieber auf den Brettern der Volksbühne steht. Ihr Papa ist aber riesiger Tatort-Fan und ihm zuliebe hat sie die Rolle zugesagt.

Bild: Radio Bremen/btf

Und da ist – last but not least – der Däne Dar Salim, der 2014 im herausragenden Bremer Tatort Brüder einen finsteren Clan-Chef mimte und nun auf die Seite der Gesetzeshüter wechselt: International durch seine Rolle im HBO-Megahit Game of Thrones bekannt geworden, spricht er fast durchgehend Englisch, bekommt einen Übersetzer (Ryan Wichert) an die Seite gestellt und ist mit seinen Gedanken oft bei den Dreharbeiten zum Spin-Off.

Schon bei der ersten Begegnung im Büro lassen sich die Unsicherheit und das gegenseitige Misstrauen förmlich greifen – ehe der schwer nikotinsüchtige Regisseur Ulrich Bock (Moritz Führmann, Das fleißige Lieschen) und die Dortmunder Tatort-Darstellerin Anna Schudt, die sich selbst spielt, dem peinlichen Schweigen und dem unbeholfenen Small Talk mit herrlicher Selbstverliebtheit ein Ende bereiten. Die Sequenz mit Schudt ist das erste ganz große Highlight in How To Tatort – neidischer Seitenhieb auf die Kollegen aus Münster inklusive.


SCHUDT:
Wenn mal irgendwas sein sollte, dann ruft ihr mich an. Beim Tatort sind wir nämlich alle eine große liebevolle Familie. Also außer den Idioten aus Münster. 14,5 Millionen, das ist, also, das ist... 14,5 Millionen! Und wofür? Für 'ne schlechte Story und ein paar müde Gags.


Bild: Radio Bremen/btf

Schudts selbstironisch-überzeichneter Gastauftritt in Folge 1, bei dem auch ihr Emmy für die Hauptrolle im Fernsehfilm Ein Schnupfen hätte auch gereicht nicht unerwähnt bleibt, ist bei weitem nicht der einzige. Schon bald begegnen die Bremer Tatort-Darsteller einem herrlich arroganten Wolfram Koch (bekannt als Hauptkommissar Paul Brix aus dem Frankfurter Tatort), der sich als furchtbar parteiischer Schauspielcoach entpuppt und Folge 2 zur besten der sechsteiligen Miniserie macht.

Vieles in How To Tatort erinnert nicht nur an Stromberg, sondern auch an den umstrittenen Impro-Tatort Das Team und den grandiosen Wiesbadener Meta-Tatort Wer bin ich? – und es spricht sehr für die Mockumentary, dass die Parallelen zum wegweisenden Film-im-Film-Experiment des Hessischen Rundfunks ganz offen thematisiert werden. Der ähnlich gelagerte Tatort-Meilenstein Meta hingegen bleibt unerwähnt – dafür gibt es in Folge 4 ein köstliches Treffen mit Meret Becker auf dem Damenklo, bei der die Berliner Tatort-Kommissarin die irritierte Luise Wolfram mit geheimnisvollen Verschwörungstheorien ins Grübeln bringt.


WOLFRAM:
Wer will uns sabotieren?

BECKER:
Tut mir leid, kann ich dir nicht sagen. Zu gefährlich. Was meinst du, warum ich mit dem Tatort aufhöre?



Bild: Radio Bremen/btf

Die lebensgefährlichen Sabotage-Akte, denen das Team beim Training der Polizeiarbeit ausgesetzt ist, und das gegenseitige Misstrauen zwischen Jasna Fritzi Bauer, Dar Salim und Luise Wolfram sorgen praktisch im Minutentakt für Lacher und sind zugleich die dramaturgischen Antriebsfedern der kurzweiligen Miniserie. 

Die mal mehr, mal weniger subtil arrangierte Situationskomik, das perfekte Timing und das tolle Gespür der Filmemacher für das oft Unausgesprochene zwischen vordergründig freundlichen Dialogzeilen halten den Unterhaltungswert bis zur letzten Folge auf höchstem Niveau. Und es sind nicht zuletzt die drei Hauptdarsteller, die How To Tatort so ungemein sehenswert machen: Keiner der drei scheint eine vorgegebene Rolle zu spielen, sondern einfach sich selbst. 

Erst auf der Zielgeraden, als das Komplott gegen die angehenden Tatort-Kommissare noch irgendwie aufgelöst werden muss, geht der Mockumentary spürbar die Luft aus – das temporeiche Finale ist nicht halb so originell wie vieles davor. Spätestens beim Gastauftritt von tagesschau-Moderatorin Linda Zervakis schießen die Filmemacher mit einer gut gemeinten, aber doch ziemlich dick aufgetragenen Botschaft deutlich über ihr Ziel hinaus.

Dennoch ist die How To Tatort hervorragend gelungen und stellenweise brüllend komisch – ob man die gut einstündige Miniserie am Stück schaut oder in kleinen Etappen, bleibt dabei jedem Zuschauer selbst überlassen und beeinflusst den Unterhaltungswert nicht. Die Pointen sitzen fast immer und kein Running Gag verbraucht sich zu schnell. 

Die Lust auf das Debüt von Liv Moormann, Mads Andersen und Linda Selb ist damit geweckt.

Parasomnia

Folge: 1144 | 15. November 2020 | Sender: MDR | Regie: Sebastian Marka
Bild: MDR/MadeFor/Daniela Incoronato
So war der Tatort:

Parasomnisch.

Denn der vierte gemeinsame Fall der Dresdner Hauptkommissarinnen Karin Gorniak (Karin Hanczewski) und Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) ist nicht von ungefähr eine der gruseligsten Folgen der Tatort-Geschichte: Er erzählt vom Schicksal der jungen Talia (großartig: Jungschauspielerin Hannah Schiller), die zur titelgebenden Parasomnie neigt und nicht nur beim Schlafen, sondern auch tagsüber von schlimmen Alpträumen und Visionen gequält wird.

Einer der Auslöser für die grauenvollen Erscheinungen ist der Fund einer Leiche in der heruntergekommenen Ex-DDR-Villa, in die Talia gerade mit ihrem Vater Ben (Wanja Mues, Fette Hunde) einzieht: Das junge Mädchen findet dort einen erstochenen Frührentner und ertappt dessen Mörder auf frischer Tat. Weil sie seit dem tragischen Tod ihrer Mutter eine Art Selbstschutz entwickelt hat und das traumatische Erlebnis sofort wieder verdrängt, tappen Gorniak und Winkler bei der Suche nach dem Täter aber ebenso lange im Dunkeln wie ihr Chef Peter Michael Schnabel (Martin Brambach) – und wie der Zuschauer.

Vorausgesetzt, er oder sie hält bis in die dramatischen Schlussminuten des düsteren Schockers durch: Regisseur Sebastian Marka und Drehbuchautor Erol Yesilkaya, die bereits grandiose Folgen wie den verschachtelten Berliner "Zwiebelkrimi" Meta oder den vielgelobten Münchner Whodunit Die Wahrheit realisierten, unterziehen das Nervenkostüm ihres Publikums einer im Tatort bis dato kaum dagewesenen Belastungsprobe. Das ist kein Krimi mehr, das ist Horror.

Der Ausflug in dieses Genre ist in der experimentierfreudigen Krimireihe indes kein Neuland: Beim missglückten Frankfurter Tatort Fürchte dich ging das (fürchterlich) schief, beim Bremer Vampir-Tatort Blut gelang es hervorragend und im Kieler Tatort Borowski und das Haus der Geister gab es gar nicht mal so viele Geister, wie es der Episodentitel vermuten ließ.

In Parasomnia ist das anders, denn die Gangart ist zwei Nummern härter als an der Kieler Förde: Im klassischen Haunted House-Setting und im Fahrwasser großer Vorbilder wie M. Night Shyamalans Mystery-Meisterwerk The Sixth Sense, das mit einem der besten Twists der Hollywood-Geschichte aufwartet, spielen die Filmemacher die Klaviatur des Genres stilsicher durch und zitieren dabei auch aus Paranormal Activity oder The Conjuring. Talia sieht tote Menschen so real, als stünden sie leibhaftig vor ihr, und es ist an ihrem vielbeschäftigten Vater und ihrer Vertrauensperson Winkler, das verängstigte Mädchen zu beruhigen.


WINKLER:
Lass es nicht zu. Diese Frau ist nicht real.

TALIA:
Wo ist der Unterschied, wenn sie mir weh tut?


Wenngleich es dem Film an einer ähnlich grandiosen Wendung auf der Zielgeraden fehlt (dafür gibt es viele kleine) und er mit den unvermeidlichen logischen Schwächen des Genres zu kämpfen hat, ziehen Marka und Yesilkaya die Spannungsschraube konsequent an und sorgen fast im Minutentakt für tolle Gänsehautmomente. Die ersten Jump Scares – zum Beispiel eine Spiegelung in der Fensterscheibe – werden noch mit angezogener Handbremse inszeniert und vertont, schon bald aber blickt die bedauernswerte Talia einer entstellten Toten ins Antlitz, die ihr in einem finsteren Keller ans Leder will.

Auch für verstörende Kinderzeichnungen, die wir als effektives Gruselmotiv zum Beispiel aus der Dürrenmatt-Verfilmung Es geschah am hellichten Tag oder aus dem Netflix-Hit Stranger Things kennen, und für subtileren Horror ist in diesem Tatort Platz – etwa wenn Talia der irritierten Winkler wie selbstverständlich ein totes Vogelküken unter die Nase hält oder ihr den Pyjama ihrer verstorbenen Mutter zum Übernachten anbietet. Creepy.

Für schwache Nerven ist der 1144. Tatort damit nichts: Wer sich auf einen gemütlichen Krimi nach bewährtem Rezept gefreut hat, wird mit diesem Film kaum glücklich. Die einleitende Stippvisite der Kommissarinnen bei den argwöhnischen Nachbarn Marion (Anne-Kathrin Gummich, Todesschütze) und Felix Steinmann (Rainer Reiners, Der gute Weg), die in ihrer Tonalität an den Kölner Tatort Nachbarn oder den Frankfurter Tatort Wendehammer erinnert, fällt noch am ehesten ins übliche Schema – ansonsten setzen die Filmemacher voll auf elektrisierenden Thrill statt auf routinierte Befragungen.

Was Parasomnia zum wegweisenden Gütesiegel Tatort-Meilenstein fehlt, ist eine echte Auseinandersetzung mit den Motiven des Täters und mehr Eigenständigkeit – wer in seinem Leben schon ein paar Horrorfilme geschaut hat, wird beim Ausflug ins Dresdner Gruselkabinett nur selten auf dem falschen Fuß erwischt. Als Beitrag zur Krimireihe ist der Film aber bemerkenswert – und der MDR knüpft mit seinem Team nahtlos an den hohen Unterhaltungswert der drei Vorgänger Das Nest, Nemesis und Die Zeit ist gekommen an.

Bewertung: 8/10

Rezension der vorherigen Folge: Kritik zum Tatort "Limbus"

Limbus

Folge: 1143 | 8. November 2020 | Sender: WDR | Regie: Max Zähle
Bild: WDR/Bavaria Fiction GmbH/Martin Valentin Menke
So war der Tatort:

Nahtödlich.

Denn Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) wird in diesem Tatort so übel mitgespielt wie in kaum einer zweiten Folge: Nach einem schweren Autounfall, der gezielt herbeigeführt wurde, fällt der Rechtsmediziner ins Koma – und das Publikum darf eineinhalb Stunden lang um sein Leben zittern.

Das allein wäre noch nicht außergewöhnlich – in Lebensgefahr schwebende oder ans Krankenbett gefesselte Ermittler gab es im Tatort schließlich schon unzählige Male (etwa in Willkommen in Hamburg oder Unvergessen) und auch Boerne musste seit seinem Dienstantritt im Jahr 2002 schon einiges wegstecken. Nein. Limbus ist aus anderen Gründen die vielleicht bemerkenswerteste Tatort-Folge aus Münster überhaupt.

Experimente scheut der WDR bei der einmaligen (und sehr gut bezahlten) Erfolgswelle, auf der Boerne und Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) seit fast zwei Jahrzehnten schwimmen, eigentlich wie der Teufel das Weihwasser – doch Drehbuchautor Magnus Vattrodt (Für immer und dich) liefert den Beleg, dass man auch in Münster originelle und spannende Geschichten erzählen kann. Er schickt Boerne zwar nicht direkt zum Teufel, pardon: zur "Geschäftsführung", aber in dessen Vorzimmer – die Vorhölle.

In den Limbus.

Dort sitzt ein sturer Schalterbeamter (Axel Prahl in einer Doppelrolle) und macht dem Neuankömmling keine Hoffnung, je wieder in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Auch Nadeshda Krusenstern (Friederike Kempter), die im umstrittenen Impro-Tatort Das Team das Zeitliche segnete, ist schon auf der Schwelle ins Jenseits angekommen – hat sich aber in der Abteilung geirrt. Denn anders als Boerne soll sie schließlich in den Himmel kommen.

Eine großartige Idee – und unheimlich rührend umgesetzt.


BOERNE:
Was machen Sie denn hier?

KRUSENSTERN:
Ach, fragen Sie mich was Leichteres. Man sagt mir ständig, mein Fall wird bearbeitet, und dann sitz ich wieder wochenlang nur rum...


Dass Krusensterns Tod zwar amüsant in der titelgebenden Vorhölle, aber nicht im Alltag auf dem Präsidium thematisiert wird, ist neben der unnötigen – und mit der vom Stammpublikum gewünschten Liefers-Prahl-Interaktion zu erklärenden – Prahlschen Doppelrolle zugleich das größte Ärgernis in diesem Tatort. Das wird der Figur, die seit dem Erstling Der dunkle Fleck fast 20 Jahre zum festen Ensemble zählte, nicht gerecht.

Im Mittelpunkt dieser ansonsten so großartigen und wendungsreichen Folge – und das ist typisch für den Tatort aus Münster – steht Boerne, und da ist neben dem Bangen um den Professor kein Platz für weitere Trauer. Thiel, Assistentin Silke "Alberich" Haller (Christine Urspruch) und Staatsanwältin Wilhelmine Klemm (Mechthild Großmann) scheint Krusensterns Ableben ebenso wenig zu tangieren wie Herbert "Vaddern" Thiel (Claus Dieter Clausnitzer) oder ihren noch blassen Nachfolger Mirko Schrader (Björn Meyer, vertrat Friederike Kempter bereits in Spieglein, Spieglein).

Ansonsten machen die Filmemacher aber einen erstklassigen Job: Das Drehbuch findet die anspruchsvolle Balance zwischen wohldosierten Gags, pfiffig-experimentellen Ideen und todernster Dramatik. Die Geschichte hat Herz und wird mitreißend erzählt. Regisseur Max Zähle, zum ersten Mal für die Krimireihe am Ruder, setzt das Ganze bis zum fiebrigen Showdown stimmungsvoll in Szene und trifft fast immer den richtigen Ton.

Wann durften wir in Münster je so mitfiebern und mitfühlen?

Antriebsfeder der Handlung ist neben Boernes Überlebenskampf auch das falsche Spiel von Hochstapler Dr. Jens Jacoby (Hans Löw, Lass den Mond am Himmel stehn), der den Professor in der Rechtsmedizin vertritt: Jacoby führt alle an der Nase herum und geht dabei über Leichen, ehe "Alberich" & Co. ihm auf die Schliche zu kommen drohen. Basierend auf wahren Ereignissen und keine ganz neue Idee – aber ein Garant für viele Spannungsmomente.

Auf das humorvoll angereicherte Wechselspiel zwischen den Welten – Boerne flüchtet immer wieder aus dem Limbus und versucht in bester Ghost: Nachricht von Sam-Manier verzweifelt, Kontakt zu den Lebenden aufzunehmen – muss man sich allerdings einlassen können: Der 1143. Tatort hätte mit seinem elegant arrangierten, wenn auch nicht immer hundertprozentig logischen Wechselspiel aus Realität und Nahtoderfahrung auch hervorragend nach Wiesbaden oder zum Polizeiruf aus München gepasst.

Wer auf eine seichte Krimikomödie und einen harmlosen Whodunit nach bewährtem Erfolgsrezept hofft, kann daher schnell die Lust an diesem Film verlieren – normalerweise wissen wir schließlich schon vor dem Einschalten, was uns bei Thiel und Boerne erwartet. Die Täterfrage wird diesmal aber nicht gestellt, die Suche nach der richtigen Auflösung bleibt den Ermittlern vorbehalten – und das Publikum kommt anderweitig auf seine Kosten.

So ist Limbus der originellste, beste und faszinierendste Münster-Tatort seit Jahren – wer hätte das nach den unzähligen Schmunzelkrimis auf Autopilot noch für möglich gehalten.

Bewertung: 8/10

Rezension der vorherigen Folge: Kritik zum Tatort "Der Welten Lohn"

Der Welten Lohn

Folge: 1142 | 1. November 2020 | Sender: SWR | Regie: Gerd Schneider
Bild: SWR/Benoît Linder
So war der Tatort:

Mittelmäßig.

Denn wie formuliert es Hauptkommissar Sebastian Bootz (Felix Klare) so schön, als er sich nach einer knappen Stunde gemeinsam mit seinem Kollegen Thorsten Lannert (Richy Müller) für die vermeintlich mangelhaften Ermittlungserfolge rechtfertigen und einen Kurzvortrag über die Gaußsche Normalverteilung anhören muss:

"Wir sind ja nur Mittelmaß. Wobei – wenn man uns etwas Zeit gibt?"

Zeit für den Kriminalfall bleibt angesichts fehlender privater Nebenschauplätze in diesem Stuttgarter Tatort genug, und Mittelmaß war er in den Jahren zuvor selten: Tolle Folgen wie Stau oder Der Mann, der lügt begeisterten Publikum und Feuilleton gleichermaßen und mit dem eigenwilligen Mysterykrimi Hüter der Schwelle war 2019 auch mal ein Ausrutscher nach unten dabei. Der Welten Lohn ist nun aber genau das: solides Mittelmaß im besten Sinne.

Das ist zunächst mal die Ausgangslage, die wie ein klassischer Whodunit anmutet: Lannert und Bootz müssen den Mord an Diana Geddert (Anni Nagel) aufklären – die Personalchefin eines mittelständischen Automobilzulieferers wird tot in einem Waldstück gefunden.

Doch schon beim obligatorischen Besuch am Arbeitsplatz der Toten offenbart sich, dass Drehbuchautor Boris Dennulat (Wer Wind erntet, sät Sturm) etwas Anderes mit dem Publikum vorhat: Firmenchef Joachim Bässler (Stephan Schad, Wir kriegen euch alle) lässt die Kommissare abblitzen, denn er hat momentan ganz andere Sorgen. Sein ehemaliger Mitarbeiter Oliver Manlik (Barnaby Metschurat, Der hundertste Affe), der nach einem Korruptionsskandal als Bauernopfer für die Firma im Knast gesessen hat, fordert Millionen von ihm.

Fortan gilt es für die Kommissare, nicht nur den Todesfall Geddert aufzuklären, sondern auch, einen weiteren Toten zu verhindern: Manlik wird zur tickenden Zeitbombe und Bässler setzt alle Hebel in Bewegung, um sich diesen vom Leib zu halten. Dass Lannert und Bootz ohne Staatsanwältin Emilia Alvarez (Carolina Vera) auskommen müssen, die in Du allein zum letzten Mal im Stuttgarter Tatort zu sehen war, macht die Sache nicht leichter.


BOOTZ:
Mit Frau Alvarez wäre sowas okay gewesen.

LANNERT:
Das glaubst auch nur du. Jetzt, als Oberstaatsanwältin, wäre es wahrscheinlich ein Oberanschiss.


Regisseur Gerd Schneider hat einen stellenweise etwa theatralischen, aber kurzweiligen und temporeichen Tatort inszeniert, der sich aus seinem Krimikorsett schnell befreit. Gedderts privates Umfeld untersuchen Lannert und Bootz erst gar nicht – fast so, als würden sie genau wissen, dass das Duell zwischen dem verzweifelten Manlik und dem arroganten Bässler der spannendere Handlungsstrang und die Antwort auf die Täterfrage nur hier zu finden ist.

Der klassische Krimi wird zum emotionalen Rachethriller, bei dem beide Seiten keine Gefangenen machen – und die Sympathien sind klar verteilt. Während der Ex-Knacki mit kleiner Wohnung um seinen Job, seine Frau Caroline (Isabelle Barth, Wofür es sich zu leben lohnt) und seinen Sohn Justus (Elias Reinhard-Sanchez) gebracht wurde, nippt der überhebliche Firmenchef in seiner Villa am Rotwein und lässt seinen loyalen Sicherheitschef Neumann (Andreas Klauem, Eine Frage des Gewissens) die Drecksarbeit erledigen. Alles etwas überzeichnet, aber überzeugend gespielt – besonders von Barnaby Metschurat.

Zur Identifikationsfigur taugt sein Manlik aber nicht: Zu aufbrausend ist sein Auftreten, zu rabiat der Umgang mit dem neuen Lover seiner Frau – und wer nicht einmal vor Autobomben zurückschreckt, der hat es beim Publikum schwer. Stattdessen halten wir uns an die Kommissare: Während Lannert bei den Ermittlungen oft gleichgültig wirkt, übernimmt Bootz den energischen Part und fühlt sich durch den einleitend erwähnten Vorwurf Bässlers, als Polizist nur mittelmäßige Arbeit zu machen, an seiner Ehre gepackt.

Beim Blick aufs Drehbuch wirkt aber vieles durchgeplant und ebenfalls mittelmäßig: Eine künstlich zurückgehaltene Erkenntnis von Rechtsmediziner Dr. Vogt (Jürgen Hartmann) kommt der Dramaturgie sehr gelegen und auch Verfolgungsjagden durch Parkhäuser gab es im Tatort schon viele Dutzend Male. Und obwohl die Handlungsdichte für 90 Krimi-Minuten ohnehin recht dünn ist, wird die Auflösung des Todesfalls in der Schlussminute hastig nachgereicht – stimmt, da war ja was, was die Ermittler einleitend erst auf den Plan gerufen hatte.

So bleibt am Ende der 1142. Tatort-Folge die Gewissheit, dass der in den vergangenen Jahren so starke Stuttgarter Tatort auch Mittelmaß abliefern kann – und dass es neben dem schwäbelnden Dr. Vogt mit KTU-Kollegin Miriam Mätzler (Diana Marie Müller) nun noch eine zweite Nebenfigur gibt, die im Krimi aus dem Ländle Dialekt schwätzt.

Bewertung: 5/10

Rezension der vorherigen Folge: Kritik zum Tatort "Krank"

Krank

Folge: 1141 | 25. Oktober 2020 | Sender: ORF | Regie: Rupert Henning
Bild: ARD Degeto/ORF/Lotus Film/Anjeza Cikopano

So war der Tatort:

Schmerzhaft – und das gleich in doppelter Hinsicht.

Da ist zum einen Moritz Eisner (Harald Krassnitzer), der einmal mehr mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hat: Nach seinem Gipsbein in Lohn der Arbeit, seiner Grippe in Kein Entkommen oder seiner retrograden Amnesie in Unvergessen leidet der Wiener Oberstleutnant in Krank unter einem Hexenschuss, der seine ohnehin schon überschaubar gute Laune zusätzlich dämpft.

Und da ist zum anderen ein Drehbuch, das vor allem die Anhänger von Homöopathie, alternativen Heilmethoden oder sogenannter "sanfter Medizin" mit schmerzhaften Wahrheiten konfrontiert: Homöopathie wirkt nicht über den Placebo-Effekt hinaus – und wer lieber auf die Ratschläge unstudierter Quacksalber als auf die Schulmediziner hört, erlebt vielleicht ein böses Erwachen. Eine klare Botschaft.

Denn so ergeht es in diesem Tatort Peter Simon (Christian Schiesser), der seiner Tochter keine Antibiotika verabreichen will: Er setzt auf wirkungslose Heilmittelchen des äußerst profitabel wirtschaftenden Anti-Pharmakonzerns "Medicinia Lenia". Das Kind stirbt, ihr Vater fällt vom Globuli-Glauben ab und zieht vor Gericht – und wird selbst zum Opfer, als man ihn auf offener Straße überfährt. Hängen die Todesfälle zusammen?

Moritz Eisner und Bibi Fellner (Adele Neuhauser), die bei ihrem 24. gemeinsamen Fall ohne ihren Vorgesetzten Ernst Rauter (Hubert Kramar) auskommen müssen, übernehmen mit ihrem Assistenten "Fredo" Schimpf (vorletzter Auftritt: Thomas Stipsits) die Ermittlungen und geraten nach Schock zum zweiten Mal mit "Korinthenkacker" Gerold Schubert (Dominik Warta) vom Verfassungsschutz aneinander.

Weitgehend einig sind sie sich nicht nur, was dessen Arbeit angeht, sondern auch in ihrer Geringschätzung der sanften Medizin: Regisseur und Drehbuchautor Rupert Henning (One Way Ticket) lässt die beiden im Dienstwagen oder auf dem Weg zur Tatort-Besichtigung in gewohnter Manier aufeinander los und spart dabei nicht mit Seitenhieben gegen selbsternannte Humanenergetiker und köstlicher (Selbst-)Ironie.


FELLNER:
Das heißt, ich kann den Beruf ausüben ohne den Nachweis einer Berufsausbildung?

EISNER:
Ja. Das ist ein bissl so wie bei Nachtwächtern, Politikern, Schauspielern...


Das funktioniert über weite Strecken prächtig: Harald Krassnitzer und Adele Neuhauser stellen im 1141. Tatort unter Beweis, warum sie in ihren Hauptrollen im Jahr 2020 vielleicht das am besten harmonierende Ermittlerduo der Reihe sind. Die Dialoge sitzen, das Zusammenspiel wirkt ungemein authentisch – und wenngleich die Geschichte diesmal etwas verkorkst und überkonstruiert anmutet, helfen die unverbrauchten Figuren stets über Hänger hinweg.

Einen solchen gibt es im spannungsarmen Mittelteil, in dem dem Krimi zunehmend die Puste ausgeht: Das Für und Wider von Naturheilmethoden ist im Zusammenspiel mit dem diesmal besonders gefragten Rechtsmediziner Kreindl (Günter Franzmeier) abgefrühstückt, der ersten Tatort-Leiche die zweite gefolgt – wenn auch etwas früher als nach der gewohnten Dreiviertelstunde. Doch es sind noch viele Minuten zu gehen und der Weg bis zur Auflösung der Whodunit-Konstruktion ist weiter, als es dem Film gut tut.

Zu diesem Zeitpunkt legt auch der zweite Handlungsstrang – die Vendetta der flüchtigen Ex-Frau des Toten – eine Verschnaufpause ein, entfaltet aber ohnehin wenig Durchschlagskraft. Denn als Zuschauer sind wir hin- und hergerissen, was wir von der Kolumbianerin Maria Ana Moreno (Sabine Timoteo, Gesang der toten Dinge) halten sollen: Bedauern wir die rabiate Tat- und Terrorverdächtige nun, weil man einer liebenden Mutter ihr Kind entrissen hat? Oder sollen wir uns fürchten, weil sie kaltblütig Hunde abknallt und Polizisten die Kauleiste verbiegt?

Man macht es dem Publikum mit dieser Figur nicht leicht, und deshalb halten wir uns an Eisner und Fellner, die die Machenschaften des ML-Konzerns freilegen und Bibel-Vergleiche wie den Judaskuss bemühen. Doch egal, wem sie begegnen: Außer Moreno darf sich niemand in den Vordergrund spielen. Konzernchef Jan Fabian (Peter Raffalt, Vergeltung), seine Frau Babette (Sona McDonald, Große Liebe), sein designierter Nachfolger Werner Gessler (Christoph Zadra) und der abtrünnige Christoph Thiel (Till Firit) bleiben stets ausrechenbar.

Und da ist ein weiteres Manöver, das nicht so recht einleuchten will: Der adrenalinschwangere Showdown, bei dem Eisner auf seinen alten Bekannten Heinz Roggisch (Erik Jan Rippmann, Unvergessen) trifft, wird ohne dramaturgischen Nutzen in einer (zweifellos packenden) Pre-Title-Sequenz vorweggenommen. Das killt auf der Zielgeraden den Überraschungseffekt. Für den sorgt stattdessen Bibi Fellner, denn auch für sie wird es in diesem Tatort schmerzhaft.

Bewertung: 5/10

Rezension der vorherigen Folge: Kritik zum Tatort "Züri brännt"

Züri brännt

Folge: 1140 | 18. Oktober 2020 | Sender: SRF | Regie: Viviane Andereggen
Bild: ARD Degeto/SRF/Sava Hlavacek

So war der Tatort:

Eng verknüpft mit den Jugendunruhen von 1980 – und zugleich so weiblich wie bis dato kein zweiter Schweizer Tatort in der 50-jährigen Geschichte der Krimireihe.

Denn nachdem der Luzerner Tatort mit seinen mäßig beliebten Ermittlern Reto Flückiger (Stefan Gubser) und Liz Ritschard (Delia Mayer) von 2011 bis 2019 mehr Tiefen als Höhen durchlebte, drückt das SRF 2020 die Reset-Taste: Die Eidgenossen verlagern den Schauplatz nach Zürich und schicken in Züri brännt, dessen Titel auf einen berühmten Schwarz-Weiß-Film der Zürcher Bewegung anspielt, unter Regie von Tatort-Debütantin Viviane Andereggen ein neues weibliches Tatort-Duo ins Rennen um die Gunst der Zuschauer.

Da ist zum einen die etwas zugeknöpfte Isabelle Grandjean (Anna Pieri Zuercher), das welsche Arbeiterkind, das Karriere in Den Haag und bei der Kripo gemacht hat und dessen frankophone Herkunft in den Dialogen eindeutig durchklingt. Und da ist die quirlige Profilerin Tessa Ott (Carol Schuler), die aus einer alteingesessenen Zürcher Familie stammt und in der Stadt am See hervorragend vernetzt ist. Hat sie den Job bei der Kantonspolizei nur Vitamin B zu verdanken?

Schon bei der einleitenden Tatort-Besichtigung – in einem Hof wird eine tätowierte Brandleiche gefunden – prallen zwei Welten aufeinander, und trotz vordergründiger Höflichkeit klingt im Subtext durch, dass Grandjean und Ott sich (noch) nicht über den Weg trauen. Auf Wunsch ihres Vorgesetzten Peter Herzog (Roland Koch, spielte von 2012 bis 2016 mehrfach Matteo Lüthi im Tatort aus Konstanz) und Staatsanwältin Anita Wegenast (Rachel Braunschweig, Die Abrechnung) raufen sich die ungleichen Ermittlerinnen aber zusammen – ehe dann das passiert, was bei einem Tatort-Erstling so häufig passiert.

Es knallt.


GRANDJEAN:
Sie lassen sich von Ihren Gefühlen leiten und das ist gefährlich!

OTT:
Wenigstens hab' ich Gefühle!


Die eingespielten Drehbuchautoren Lorenz Langenegger und Stefan Brunner, die zuletzt den grandiosen Echtzeit-Krimi Die Musik stirbt zuletzt konzipierten, haben sich für ihren vierten Tatort viel vorgenommen – ein wenig zu viel, möchte man am Ende resümieren. Trotz des hohen Unterhaltungswerts wirkt beim Sprung zwischen den Zeitebenen nicht alles aus einem Guss, manches bemüht und einiges zu konstruiert. 

Zwei Beispiele seien genannt:

Grandjean und Ott, die kühle Erfahrene und die temperamentvolle Unerfahrene, sind interessante Figuren und werden angemessen ausführlich eingeführt – was bei Ott aber auch daran liegt, dass sie rein zufällig bei dem Mann eingezogen ist, der im Figurenkonstrukt eine Schlüsselrolle einnimmt. Der drogensüchtige Charlie Locher (Peter Jecklin, Ausgezählt) war in den 80er Jahren mit der verdeckten Ermittlerin Eva Baumann (Julia Suzanne Buchmann, Krieg im Kopf) liiert – und deren rätselhaftes Verschwinden schlägt die Brücke ins Hier und Jetzt.

Auch Kripochef Herzog, der kurz vor dem Ruhestand steht, ist zufällig in das Geschehen von damals verstrickt und gibt ansonsten den souveränen Vorgesetzten, der beim Zickenkrieg im Präsidium einschreiten muss. So weiblich und dynamisch der Tatort mit Blick auf Regie, Figuren und Inszenierung daherkommt: Hier verfallen die Filmemacher in antiquierte Muster, wie sie sich in den vergangenen Jahren bei ähnlicher Konstellation zum Beispiel im Tatort aus Dresden beobachten ließen. Wie wär's denn mal mit einer Kripochefin?

Auch über die gealterte Punkrockerin Barbara Dietschi (Karin Pfammatter, Schmutziger Donnerstag), die der Kommissarin Grandjean eine spontane Falco-Nummer widmet, und den kaltschnäuzigen Chefredakteur Simon Untersander (Michael Goldberg, Es ist böse) haben die Filmemacher wenig zu erzählen, was über Stereotypen hinausgeht – und so plätschert die 1140. Tatort-Folge eine ganze Weile in routinierten Bahnen vor sich hin. Wirklich langweilig wird es aber nie und die eingeflochtenen Bilder der Opernhauskrawalle setzen nicht nur den historischen Fixpunkt, sondern bringen auch Schwung ins Geschehen.

Richtig aufregend wird es dann im starken Schlussdrittel, das mit einem knackigen Twist aufwartet – und auch immer dann, wenn die verschwundene Baumann den Verdächtigen plötzlich als Halluzination erscheint, den Zuschauer mit gespaltener Zunge anfaucht oder blutüberströmt zwischen Journalisten steht. Effekthascherische, aber wirkungsvolle Ausflüge ins Horrorgenre, die nicht jeden Sonntag geboten werden. 

Die gelungene Auflösung ist ebenfalls ein Pluspunkt dieses vielversprechenden Tatort-Debüts: Die Figuren (insbesondere Ott) wecken die Lust auf weitere Folgen aus Zürich und die Synchronisation der schwyzerdütschen Originaldialoge wirkt in Züri brännt bei weitem nicht so künstlich, wie es oft zu Flückigers Zeiten der Fall war.

Bewertung: 6/10