National feminin

Folge: 1130 | 26. April 2020 | Sender: NDR | Regie: Franziska Buch
Bild: NDR/Frizzi Kurkhaus
So war der Tatort:

Rechtsfeministisch.

Denn Regisseurin Franziska Buch (Das verschwundene Kind) und Drehbuchautor Florian Oeller wagen sich in National feminin an zwei komplexe Themen, die sie in diesem Tatort gewissermaßen im Mordopfer vereinen: Feminismus und Rechtsextremismus. Für beides stand Studentin Marie Jäger (Emilia Schüle, Das goldene Band), die sich als Videobloggerin zum Aushängeschild der "Jungen Bewegung" gemausert hat, gleichermaßen – aus ihrer Abneigung gegen Menschen mit Migrationshintergrund machte sie keinen Hehl und zu modernem Feminismus hat sie ebenfalls ein paar ziemlich exklusive Ansichten parat.

Als Jäger ermordet im Wald liegt, ruft das die Göttinger Hauptkommissarinnen Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) und Anaïs Schmitz (Florence Kasumba) auf den Plan – und gibt in diesem Krimi zugleich den Startschuss für die unmissverständlich vorgetragene Botschaft, die sich die Filmemacher auf ihre Fahnen geschrieben haben. Sie wollen aufklären über  Femizid und dabei klare Kante gegen Rechts zeigen – ein zweifellos ehrenwertes Unterfangen, doch in der Wahl ihrer Mittel schießen sie bisweilen über ihr Ziel hinaus.

In National feminin ist es nämlich vor allem eine, die pausenlos Lanzen für die Emanzipation der Frauen bricht, sich über Argumentationen auf Thilo Sarrazin-Niveau echauffiert und auf Knopfdruck Statistiken parat hat, wie viele Frauen in Deutschland pro Tag von ihren Männern ermordet werden: Charlotte Lindholm.


LINDHOLM:
Hey, ich mach das hier auch für dich!


SCHMITZ:
Ich hab dich nicht darum gebeten.


Dass Lindholms Brandreden selbst ihrer deutsch-afrikanischen Kollegin, die rassistische Anfeindungen im 1130. Tatort kühl erträgt, irgendwann zu viel werden, steht beispielhaft dafür, dass die gut gemeinte Botschaft des Krimis selten auch wohl dosiert transportiert wird.

Die Filmemacher geben sich praktisch bei jeder Gelegenheit tolerant und betont weltoffen: Im Präsidium werden die zwei emanzipierten Powerfrauen von Kollegen mit Nachnamen wie Ciaballa, Nguyen und Elloglu unterstützt – in Göttingen wird die moderne und bunte Berufswelt offenbar nicht nur gelobt, sondern wirklich gelebt.

Zugleich scheint man auffallend bemüht darum, den Griff in die Klischeekiste zu vermeiden: Tummelten sich im tollen Kölner Tatort Odins Rache 2004 noch vorwiegend Nazis, die gleich als solche zu erkennen waren, haben sich die Zeiten längst geändert. Rechtes Gedankengut zieht sich im Jahr 2020 durch alle Teile der Gesellschaft und das bildet der Film auch ab.

Am deutlichsten offenbart sich dies an der besten, weil vielschichtigsten Figur: Die mit einer Frau verheiratete Juraprofessorin Sophie Behrens (Jenny Schily, Der Himmel ist ein Platz auf Erden) stellt provokante Fragen und hält Lindholm beim Glas Rotwein nach Feierabend den Spiegel vor – ist aber keineswegs so unsympathisch gezeichnet wie Rechtspopulisten sonst mitunter im Tatort dargestellt werden (vgl. Wacht am Rhein).

Auch im Verhörzimmer hocken mit Felix Raue (Samuel Schneider), Pauline Gebhardt (Stephanie Amarell, Ätzend) und Sven Ulbrich (Leonard Proxauf, Unklare Lage) keine glatzköpfigen Vollhonks, denen allein beim Anblick einer dunkelhäutigen Kommissarin der Kamm schwillt, sondern drei junge Studierende, die sich nicht als Rassisten, sondern als Patrioten sehen. Einzig der aufbrausende Sven trägt zum strengen Scheitel stolz ein T-Shirt mit dem Aufdruck #REMIGRATION und entspricht am ehesten dem Stereotyp vom einfältigen Rechten, der tumbe Parolen nachplappert.

So differenziert der Blick auf die rechte Szene ausfällt, so antiquiert und überzeichnet wirkt der Film an anderer Stelle: Der glücklich mit Schmitz verheiratete Rechtsmediziner Nick (Daniel Donskoy) flirtet unverhohlen mit Lindholm, der attraktiven blonden Alleinerziehenden, die Männer zum Erstaunen ihrer Kollegin abfällig als "aufrecht gehende Säugetiere" tituliert, ihren fürs Berufliche unpraktischen Sohn David (Oskar Netzel) praktisch rund um die Uhr bei ihrer Mutter parkt und mit neuem Parfüm (!) um die Aufmerksamkeit des smarten Forensikers heischt. Diese Szenen auf Soap-Niveau wirken wie aus der Zeit gefallen und konterkarieren die zweifellos gut gemeinte Botschaft des Films in ihren Grundfesten.

Und dann ist da noch das Tatmotiv: Während der Kriminalfall von der ausufernden Debatte um Feminismus, Femizid und Überfremdung erdrückt wird, steht es am Ende – wie so häufig in komplexen Themenkrimis – doch wieder ziemlich losgelöst für sich.

Bewertung: 5/10

Rezension der vorherigen Folge: Kritik zum Tatort "Die Guten und die Bösen"

Die Guten und die Bösen

Folge: 1129 | 19. April 2020 | Sender: HR | Regie: Petra Katharina Wagner
Bild: HR/Degeto
So war der Tatort:

Postmortal.

Denn in Die Guten und die Bösen gibt es fast auf den Tag genau ein Jahr nach ihrem Tod ein letztes Tatort-Wiedersehen mit der 2019 verstorbenen Hannelore Elsner – jener beliebten Schauspielerin also, die in den späten 90er Jahren selbst zweimal als Die Kommissarin Lea Sommer im Tatort aus Hamburg zu sehen war (allerdings mit Gefährliche Übertragung und Alptraum zwei ziemlich schwache Fälle beschert bekam).

Bei ihrer Rückkehr in die Krimireihe ist Elsner aber nicht etwa in ihrer früheren Rolle zu sehen, sondern als Elsa Bronski: Die pensionierte Kommissarin hat vor sieben Jahren den Fall der entführten und vergewaltigten Helen Matzerath (Dina Hellwig, Wer das Schweigen bricht) nicht aufklären können und löst damit indirekt den neuen Mordfall im Hier und Jetzt aus.

Der Ehemann des Opfers, der Polizist Ansgar Matzerath (Peter Lohmeyer, Der schwarze Ritter), hat das Gesetz nämlich in die eigenen Hände genommen und den vermeintlichen Vergewaltiger seiner Frau gefoltert und mit einer Plastiktüte erstickt – und seine Kollegen, die Frankfurter Hauptkommissare Anna Janneke (Margarita Broich) und Paul Brix (Wolfram Koch), staunen nicht schlecht, als Matzerath sie nicht nur persönlich zu Leiche und Tatort in einer Waldhütte fährt, sondern die Tat auch umgehend gesteht.


BRIX:
Hast du ihn gefunden?


MATZERATH:
Ich hab ihn getötet. Ich bin der Mörder.

BRIX:
Also ich hab jetzt überhaupt keinen Sinn für Humor.


Drehbuchautor David Ungureit (Mord Ex Machina) hat einen sehr ungewöhnlichen Tatort geschrieben und bricht darin fleißig mit den ungeschriebenen Gesetzen der Krimireihe.

Dass Janneke und Brix nicht zu Scherzen aufgelegt sind, hat Gründe: Bevor die Leiche gefunden wird – normalerweise geschieht dies in den Anfangsminuten – feiern die Kommissare nachts im Präsidium eine alkoholschwangere Karaoke-Party mit Brix' extravaganter Mitbewohnerin Fanny (Zazie de Paris) und werden am nächsten Morgen völlig verkatert vom mutmaßlichen Mörder geweckt. Als ironische Variation der üblichen Dramaturgie hätte das durchaus funktionieren können, doch stattdessen stürzt der Film nach dem Leichenfund in ein dauerhaftes Spannungstief, aus dem die Filmemacher ihn bis zum Abspann nicht mehr heraushieven.

Im 1129. Tatort scheint fast alles wichtiger zu sein als die Frage, ob Matzerath den Richtigen ins Jenseits befördert hat: Brix' schwacher Magen, der den Alkohol nicht verkraftet, die ausufernden Renovierungsarbeiten, die zu absurden Verhörszenen auf dem Flur führen, ein vom stellvertretenden Staatsanwalt Bachmann (Werner Wölbern) angesetzter Teamworkshop unter Leitung der engagierten Olivia Dor (Dennenesch Zoudé, Tödliche Souvenirs) und auch Jannekes Fotoausstellung, die den Flur des Präsidiums ziert.

"Das ist doch das Tolle an der Fotografie: der Ausschnitt", sagt Janneke über eines ihrer Fotos, und etwas Ähnliches ließe sich über den ersten Tatort von Regisseurin Petra Katharina Wagner sagen: Die Guten und die Bösen, dem sich zwar eine Art Echtzeit-Charakter, aber kein Tempo attestieren lässt, zeigt viele Ausschnitte aus dem Kripo-Alltag – aber leider die, die so gut wie keine Spannung generieren.

Zum ermüdenden Leerlauf gesellen sich im Drehbuch realitätsferne Manöver: Die pensionierte Bronski – Elsner mimt sie unaufgeregt, aber überzeugend – darf im Keller des Präsidiums in Seelenruhe ungeklärte Altfälle sichten, weil die Pförtner sie noch von früher kennen, ihr junger Schäferhund flitzt ungestört durchs Gebäude, in dem sich Coach Dor verläuft, und der mordverdächtige Matzerath diniert nicht nur unbewacht in der Kantine, sondern holt sogar allein ein frisches Hemd aus Brix' Dienstwagen, weil der sein anderes vollgekotzt und ihm den Autoschlüssel gegeben hat.

Das ist ziemlich abenteuerlich und schmälert den Unterhaltungswert erheblich, dabei birgt der philosophisch-systemkritische Ansatz der Filmemacher eigentlich enormes Potenzial: Zählt ein geständiger Mörder wirklich zu den Bösen, weil er den Vergewaltiger seiner Frau getötet hat? Und zählen Polizisten wirklich zu den Guten, wenn sie ihn davon abbringen wollen, die Tragweite seiner Tat zu gestehen?

"Ich frag mich in letzter Zeit andauernd, was wir hier eigentlich machen und wozu", zieht Janneke ein ernüchtertes Fazit, und dasselbe ließe sich leider auch über diesen kunstvoll angehauchten Tatort sagen. Denn so reizvoll die kritischen Denkanstöße in den selbstreflexiven Dialogen sein mögen – unterm Strich bleiben fast alle Fragen unbeantwortet und die Figuren drehen sich nur um sich selbst.

Bewertung: 4/10

Rezension der vorherigen Folge: Kritik zum Tatort "Das fleißige Lieschen"

Das fleißige Lieschen

Folge: 1128 | 13. April 2020 | Sender: SR | Regie: Christian Theede
Bild: SR/Manuela Meyer
So war der Tatort:

Vielversprechend.

Denn nach der durchwachsenen Max Palu-Ära von 1988 bis 2005, der 2006 schwach beginnenden und 2012 stark endenden Kappl & Deininger-Phase (vgl. Verschleppt) und dem völlig fehlkonzipierten Stellbrink & Marx-Intermezzo ab 2013 (Tiefpunkt: Eine Handvoll Paradies) hebt der SR im Jahr 2020 ein Ermittlerduo aus der Taufe, mit dem es in Sachen Unterhaltungswert nachhaltig aufwärts gehen könnte.

Die Saarbrücker Hauptkommissare Adam Schürk (Daniel Sträßer) und Leo Hölzer (Vladimir Burlakov, Weiter, immer weiter) bringen alles mit, was das Fundament für ein langfristig erfolgreiches Team ausmacht: überzeugende Schauspieler, eine interessante Figurenzeichnung und sogar einen gemeinsamen Background – genauer gesagt eine Freundschaft aus Kindheitstagen, nach der sich die beiden aus den Augen verloren und nun im Polizeipräsidium wieder zusammengefunden haben.

Bei ihren Ermittlungen unterstützt werden Schürk und Hölzer von der knuffigen Forensikerin Henny Wenzel (Anna Böttcher, Der Hammer) und den Kripo-Kolleginnen Pia Heinrich (Ines Marie Westernströer, Kein Mitleid, keine Gnade) und Esther Baumann (Brigitte Urhausen, Mord Ex Machina) – und die sind auf Berlin-Rückkehrer Schürk deutlich besser zu sprechen als auf Hölzer, mit dem sie schon länger zusammenarbeiten.

Seine eklatante Schwäche, in kritischen Momenten seine Dienstwaffe nicht abzufeuern, vermag allerdings (noch) keinen Keil zwischen die beiden Kommissare zu treiben.


BAUMANN:
Dein Partner, der hat Schiss in der Buchse.


SCHÜRK:
Willst du auch einen Tipp? Halt einfach mal deine Fresse, ja?


Es herrscht nun ein rauerer Umgangston im Präsidium, und das ist auch gut so: Stellbrink & Co. ließ sich eher attestieren, um Authentizität bemüht zu sein, während das neue Quintett sie bei seinem Debüt in Das fleißige Lieschen auch ausstrahlt. Schürk ist der aufbrausende Einzelgänger, der in seiner ersten Szene einem rabiaten Vater eine reinhaut, Hölzer der fleißige Teamplayer und Softie, der bei den Kollegen einen schweren Stand hat. Darauf lässt sich aufbauen.

Regisseur Christian Theede und Drehbuchautor Hendrik Hölzemann, die bereits Mord Ex Machina realisierten, bescheren den beiden zum Auftakt einen spannenden Krimi der alten Schule: Erik Hofer (Gabriel Raab) liegt erschlagen im Wald, nachdem sein Großvater Bernhard (Dieter Schaad, Im toten Winkel) ihn zum Nachfolger als Leiter der traditionsreichen Tuch- und Textilfabrik Hofer & Söhne erklärt hat – und vor allem Eriks Bruder Konrad (Moritz Führmann, Nachtsicht), der selbst gern Firmenchef geworden wäre, gerät unter dringenden Tatverdacht.

Der Whodunit nach klassischem Strickmuster liest sich zugleich wie ein typischer Erstlingsfall eines neuen Ermittlerduos: Um die Hauptfiguren nachhaltig im Kopf der Zuschauer haften zu lassen, braucht es nicht nur ausführliche Charakterzeichnung, sondern auch die einleitend erwähnte, fundierte Backgroundstory. Das geht auch im 1128. Tatort zwangsläufig auf Kosten des Mordfalls, für den dadurch weniger Zeit bleibt.

Darüber hinaus gibt es weitere Handlungsschlenker, in die viel Zeit investiert wird: Konrad Hofers Beziehung zu Jaques Fontaine (Marc Oliver Schulze) und Schürks amüsanter Privatfeldzug gegen Pförtner Knut Ehrlich (Axel Siefer, Das ewig Böse) bringen die Handlung ebenso überschaubar voran wie Erik Hofers Wettschulden beim skrupellosen Wettbürobetreiber Lars Weißer (Robert Gallinowski, Tod und Spiele) – zumal es ohnehin ein ungeschriebenes Tatort-Gesetz ist, dass Kleinkriminelle, denen die Kommissare nebenbei das Handwerk legen, am Ende unschuldig sind.

Sehr reizvoll gestaltet sich dafür die über fünf Generationen reichende Familien- und Firmengeschichte der Hofers, in der sich dank der Erzählungen von Lida Tellmann (Marie Anne Fliegel, Borowski und das Haus am Meer) ein düsteres Kapitel aus der NS-Zeit offenbart: Hier fehlt am Ende ein wenig die Zeit, um in angemessener Tiefe auszuerzählen, welch schreckliche Dinge sich einst auf dem Firmengelände abspielten.

Trotzdem ist Das fleißige Lieschen unterm Strich ein atmosphärisch dicht inszenierter und moderner Krimi, in dem auch die Nebenrollen überzeugend besetzt sind: Allein die vereinnahmende Performance von Dieter Schaad als herrischer Patriarch und sadistischer Alt-Nazi ist das Einschalten wert, und wie so oft im Tatort wird die Autorität dieses Scheusals auch in den privaten Erfahrungen eines Kommissars reflektiert.

Am Ende stehen ein gelungenes Debüt für Schürk und Hölzer und ein knackiger Cliffhanger, der bereits die Neugier auf den zweiten Fall der beiden weckt.

Bewertung: 7/10

Rezension der vorherigen Folge: Kritik zum Tatort "Die Zeit ist gekommen"

Die Zeit ist gekommen

Folge: 1127 | 5. April 2020 | Sender: MDR | Regie: Stephan Lacant
Bild: MDR/W&B Television/Michael Kotschi
So war der Tatort:

Schweißtreibend – und das nicht nur für die mitfiebernden Zuschauer, sondern auch für alle Beteiligten im Film.

Die Zeit ist gekommen spielt nämlich wie Sidney Lumets thematisch ähnlich gelagerter Hollywood-Klassiker Hundstage im Hochsommer – und der hinterlässt nicht nur auf dem Hemd von Kommissariatsleiter Peter Michael Schnabel (Michael Brambach) sichtbare Spuren der Nässe, sondern treibt auch den Hauptkommissarinnen Karin Gorniak (Karin Hanczewski) und Leonie Winkler (Cornelia Gröschel), die sich bei ihrem dritten Fall weiterhin siezen, die Schweißperlen auf die Stirn.

Und dann ist da noch die Herkulesaufgabe, die es zu lösen gilt: Der vorbestrafte Familienvater Louis Bürger (toll: Max Riemelt) hat sich mit seiner Frau Anna (auch toll: Katia Fellin), seinem 12-jährigen Sohn Tim (Claude Heinrich) und mehreren Geiseln in einem Kinderheim verschanzt und scheint dort zu allem entschlossen – es sei denn, es gelingt den Dresdner Ermittlerinnen, den einleitenden Mord an einem Polizisten aufzuklären, für den sie den vehement auf seine Unschuld pochenden Bürger zuvor in Untersuchungshaft gesteckt haben (aus der er allerdings mit einem ziemlich schmerzvollen Zahnbürstentrick wieder entkommen ist).

Die Beweislage gegen den Hauptverdächtigen liest sich so erdrückend, dass eines von Beginn an gewiss ist: Wer im Hinblick auf den Mordfall so eindeutig schuldig zu sein scheint, ist im Tatort am Ende mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unschuldig.


GORNIAK:
Herr Bürger, lassen Sie uns gemeinsam versuchen, das Ganze hier friedlich und ohne Verletzungen zu klären.


BÜRGER:
Wir kommen hier erst raus, wenn ihr wisst, wer's war!


Die Drehbuchautoren Stefanie Veith und Michael Comtesse, die zuletzt an der Geschichte zum überambitionierten Bremer Tatort Wo ist nur mein Schatz geblieben? mitschrieben, entwerfen diesmal die typische Pattsituation, die wir in den vergangenen Jahren auch im überraschend starken Luzerner Tatort Friss oder stirb oder in der grandiosen Zeitschleifen-Hommage Murot und das Murmeltier zu sehen bekamen: Drinnen die Kriminellen, draußen die Polizisten – und während die in die Enge getriebenen Täter ihre Forderungen mit aller Macht erfüllt sehen wollen, geht es für die Beamten darum, das Ganze ohne Zugeständnisse unblutig zu Ende zu bringen.

Sieht in den Anfangsminuten noch vieles nach einer Bonnie und Clyde-Variation im Tatort-Korsett aus, wandelt sich der Film nach zwanzig Minuten zum emotionalen und mitreißenden Geiselnahme-Thriller: Unterstützt vom stimmungsvollen Soundtrack darf in und rund um den unübersichtlichen Wohnkomplex – es gibt mehrere Ein- und Ausgänge, dutzende Zimmer mit Fenster und nicht zuletzt einen Keller – mitgefiebert werden, ob es den Kommissarinnen wohl gelingt, den Täter zum Aufgeben zu bewegen und die Geiseln zu befreien.

Dass Dienstvorschriften keine Rolle zu spielen scheinen und die Kripo einen dicken Fehler begeht, der ihr bereits im vielgelobten Vorvorgänger Das Nest unterlaufen ist, sei den Filmemachern im Sinne des Unterhaltungswerts verziehen – und dass zusätzlich Variablen und Unbekannte ins Spiel kommen, um die Spannungskurve dauerhaft hoch zu halten, versteht sich fast von selbst. Auf dem tropisch heißen Dachboden haben sich zum Beispiel die zwei Mädchen Verena (Emilia Pieske, Echolot) und Larissa (Paula Donath) versteckt und halten ohne Wissen der Täter Sichtkontakt mit den Ermittlern – im Erdgeschoss wiederum versucht der aufmüpfige Teenager Nico (Emil Belton), dem gereizten Louis ein Schnippchen zu schlagen.

Ein echter Whodunit ist die 1127. Tatort-Ausgabe trotz des einleitenden Mordfalls also nur bedingt, und auch schon vor der Eskalation im Kinderheim deutet sich fast unübersehbar an, dass die Auflösung eine herbe Enttäuschung werden könnte: Der Kreis der Verdächtigen ist extrem überschaubar, weil außer den viel zu verdächtigen Bürgers eigentlich nur Louis' Schwager Holger Schanski (Karsten Antonio Mielke, Inferno) und seine Frau Lilly (Bea Brocks) lose mit dem Fall in Verbindung stehen.

Was genau hinter dem Auftaktmord an dem Polizisten steckt, welches Motiv dazu den Anstoß gab und wie das Ganze vertuscht werden sollte, wird schließlich sagenhaft oberflächlich in einem rund einminütigen Schnabel-Monolog vorgetragen und prompt ohne jeden Widerstand bestätigt. Das wirkt völlig beliebig und schmälert den Gesamteindruck dieser ansonsten von Tatort-Debütant Stephan Lacant so packend in Szene gesetzten Folge am Ende doch empfindlich.

Bewertung: 7/10

Rezension der vorherigen Folge: Kritik zum Tatort "Krieg im Kopf"