Lass den Mond am Himmel stehn

Folge: 1135 | 7. Juni 2020 | Sender: BR | Regie: Christopher Schier
Bild: Bavaria Fiction GmbH/BR/Hendrik Heiden
So war der Tatort:

Juristisch hochinteressant.

Denn die Filmemacher widmen sich in Lass den Mond am Himmel stehn nicht nur den Fragen, welche Folgen die Strafmündigkeit im Alter von 14 Jahren und welche Rechte die Volljährigkeit mit 18 Jahren mit sich bringen, sondern auch der weniger bekannten Strafvereitelung nach § 258 Abs. 6 StGB, der besagt: Wer die Tat zugunsten eines Angehörigen begeht, ist straffrei.

Es wundert daher nicht, dass in diesem Tatort zwei befreundete Familien im Blickpunkt stehen und ein großer Teil der Handlung hinter dem Rücken der Ermittler erzählt wird: Der 13-jährige Emil Kovavic (Ben Lehmann) liegt tot am Ufer der Isar – und während für seine Mutter Judith (Laura Tonke, Tschill Out) die Welt zusammenbricht, trägt es sein Stiefvater David (Lenn Kudrjawizki, Ausgelöscht) mit Fassung. Kurz vor seinem Tod hatte sich Emil zum Zocken mit seinem gleichaltrigen Kumpel Basti Schellenberg (Tim Offerhaus) getroffen – der gibt sich allerdings ebenso ahnungslos wie seine Eltern Antonia (Victoria Mayer, Tod und Spiele) und Martin (Hans Löw, Der Mann, der lügt).

Die Münchner Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) gehen daher zunächst in der Schule des erschlagenen Jungen auf Spurensuche – aber auch Emils Sportlehrerin hat ihre Hausaufgaben gemacht und weiß genau, wie weit die Kommissare gehen dürfen.


LEHRERIN:
Sie können hier nicht so einfach meine Schüler befragen. Vor allem nicht ohne das Einverständnis der Eltern.

BATIC:
Wir befragen sie nicht. Wir fragen nur.


Regisseur Christopher Schier (Die Faust) hat einen faszinierend kühlen, toll fotografierten und atmosphärisch unheimlich dichten Tatort inszeniert, der zwar etwas schwer in Schwung kommt, im überragenden Schlussviertel aber schließlich seine volle Wucht entfaltet.

Bis dahin ergibt sich die Faszination nicht zuletzt aus den stimmungsvollen Bildern und den rätselhaften Figuren: Ein mit beiden Beinen im Leben stehender Arzt, der sich mit dem aufreizenden Teenager Hannah (Lea Zoe Voss) einlässt, ein wohlhabendes Ehepaar, das sich offenbar auseinandergelebt hat und Eidechsen (!) im teuren Eigenheim duldet, ein introvertierter Familienvater, der in der akribischen Reparatur von Stereoboxen aufgeht und sich in voller Lautstärke von Antonio Vivaldis Vier Jahreszeiten beschallen lässt – und nicht zuletzt ein skatender Teenager, der seine Freundin mit irritierender Ignoranz, die Kommissare mit bemerkenswertem Desinteresse und seine Eltern und Schwester mit höhnischer Gleichgültigkeit straft.

Lass den Mond am Himmel stehn weckt Erinnerungen an die britische Arthouse-Perle We Need to Talk About Kevin, den starken Frankfurter Tatort Unter Kriegern oder den fast genauso überzeugenden Dresdner Tatort Nemesis – denn hier wie dort sind es Kinder, die ihre hilflosen Erzieher mit Worten und Taten zur Verzweiflung bringen und uns als Zuschauer mit ihrem provokanten Verhalten förmlich aggressiv machen.

Die Drehbuchautoren Stefan Hafner und Thomas Weingartner, die nach ihrem originellen Drehbuch zum Wiener Tatort Her mit der Marie! zum zweiten Mal ein Skript zur Krimireihe beisteuern, zitieren Motive aus dem Evil-Child-Genre und führen den 84. Fall der altgedienten Münchner Kommissare zielsicher zu einem verstörend-beklemmenden Finale, das lange nachwirkt und dank der juristischen Nachhilfestunde sogar dem öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag gerecht wird.

So machtlos und ernüchtert Batic, Leitmayr und Assistent Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer) am Ende dastehen, so frustriert fühlen auch wir uns als Zeugen des Geschehens. Denn was nützt es uns schon, wenn wir bei der Suche nach der Auflösung den falschen Fährten zum Trotz früh den Durchblick haben und uns den Täter an zwei Fingern abzählen können, er aber nicht hinter Schloss und Riegel wandert?

"Das ist doch absurd", spricht uns Kalli auf der Zielgeraden des Films aus der Seele – und doch ist die Kritik am deutschen Rechtsstaat hier deutlich angenehmer dosiert als zum Beispiel im vielgelobten Kölner Tatort Ohnmacht, der es 2014 mit plumper Zaunpfahl-Schelte versuchte und dabei ziemlich über sein Ziel hinausschoss.

Das hat München schon immer besser gekonnt.

Bewertung: 8/10

Rezension der vorherigen Folge: Kritik zum Tatort "Der letzte Schrey"

23 Kommentare:

  1. Langweilig das ist kein Krimi 😪😪😪

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    1. Es geht um einen Kriminalfall, also ist es ein Krimi.

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  2. „Lass den Mond am Himmel stehn“ ist ein wirklich guter Krimi. Endlich einmal wieder ein guter Tatort ! Kompliment.

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  3. „Lass den Mond am Himmel stehn.“ Endlich wieder einmal ein guter Tatort! Kompliment.

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  4. WAS SOLL MAN DAZU SAGEN?
    WIEDER EIN TATORT ZUM ABGEWÖHNEN.
    LEIDER:-((

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  5. Einen solchen guten und spannend gespielten Tatort wie den heute aus München schon lange nicht mehr gesehen. Glückwunsch an das ganze Team!

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  6. Was hatte es eigentlich mit der Echse azf such

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  7. Zum Abschluss der Tatort Saison noch einmal ein Glanzstück. Dieser verstörende Fall ist Krimikunst weit entfernt vom Mainstream. Von den Münchnern kann man ja meist Qualität erwarten
    Ein Tatort zum Fürchten mit diesem Horrorkind
    Auch ästhetisch gelungen.

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  8. Man will es ja gar nicht glauben, den Schluss: ... straffrei

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  9. Ich möchte gerne wissen, was das Motiv von Basti war, Emil zu töten.

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    1. Basti ist ein Psychopath, völlig empathielos und ohne jedes Mitgefühl. Das wurde doch mehr als deutlich. Die interessante Frage ist, warum die Eltern dieses Monster schützen und weiterhin mit ihm zusammenleben wollen. Unbegreiflich.

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  10. Guter Tatort, der dazu bewegt und Gesetzbuch zu schauen.
    Anmerkung an die Redaktion: Der Protagonist Emil, heißt Emil Ritter (nach seinem Lebkuchen Vater)

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    1. So stand es in der Tat auf dem Klingelschild. Die Kommissare nennen ihn beim Besuch in der Schule aber Emil Kovavic, denselben Nachnamen trägt er auch auf der offiziellen Tatort-Website.

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  11. Ein leiser intensiver Tatort diesmal, der durch seine langsame Entfaltung das Unfassbare noch unerträglicher macht. Ein soziopathisches Kind, das in einer ziemlich kühlen Familie (mit Ausnahme der Tochter Hannah) aufwächst und zeigt, dass der schöne Schein alles ist, was diese Familie zu bieten hat. Die Eidechsen, die zum Psychogramm dieser Familie gehören, hätte man andeutungsweise etwas besser ausarbeiten können; das Unheimliche dringt in das perfekte Haus und untergräbt die perfekte Oberfläche dieser Konstellation. Nicht nur das Kind ist schockierend, unbegreifbar, sondern auch seine Eltern, die am Ende genauso undurchsichtig scheinen. Und ja, solche Leute können unter diesem Dach bleiben, auch wenn dort ein Mord geschehen ist, den der eigene Sohn begangen hat. Alle außer Hannah, die geht am Ende. Ein sehr erschütternder Tatort, der lange nachhallt.

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  12. Super! Ein guter Tatort! Und wie kalt kann eine Mutter sein.

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  13. Mir wird durch die gegensätzlich veranlagten Kommentare bewusst,wie weit wir als Menschen voneinander entfernt sein können und wie gefährlich dies ist... Die stattgefundenen Seelennahrung und Herzensbildung entscheidet schliesslich über unsere Urteilsbildung und dann erkennen wir uns am gegenüberliegenden Ufer:das tut weh und macht Angst.
    Dieser Tatort war für mich auf mehreren Ebenen exzellent gemacht und gespielt. Und brandmarkt das "kalte" bzw egomanische Dasein und den Wohlstand, ohne gesellschaftliche Verpflichtung...
    Mir sind Menschen, die diesen Tatort langweilig finden, unheimlich- würde ich deswegen vielleicht eines Tages irgendwann auch zur Tat schreiten? Vielleicht unter dem Eindruck einer Bedrohung???? Ruck zuck wirds echt schwarz weiss, polar und gespalten... Und daraus wird irgendwann ein Kampf.Im Kleinen und im Grossen. Wir brauchen den sozialen Kitt, zuträgliche Moderation ganz ganz dringend!Wer spürt hier überhaupt noch soziale Verantwortung, wenn das Wichtigste seit dem Kindergarten oder sogar schon Babyhort die Ellebogen und das Durchsetzungsvermögen sind?!

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    1. Das sehe ich ähnlich; zu problematisieren wäre über den Film und seine ästhetische Brillanz hinaus eine gesellschaftliche und familiäre Kälte, die Menschlichkeit verunmöglicht. Die Tendenz sehe ich nicht ganz so schwarz (weiß), allerdings berührt dieser Film eine existenzielle Frage unseres Zugangs. Und der Fähigkeit dazu. Mich hat dieser Tatort gestern auch getroffen und ich schleppe ihn jetzt noch ein wenig mit durch den Tag. (meinen Kommentar findest Du weiter oben (08:56))

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  14. Wird es zu diesem Tatort eine Fortsetzung geben? Die Lösung, die uns zum Ende präsentiert wird, kann doch nicht stimmen. Oder habe ich was falsch verstanden? Ich meine Folgendes: um 20.30 Uhr fragt Emils Mutter ihren Sohn, ob er schon zu Hause sei. Die Antwort kommt postwendend "Sure, mom". Zum Ende des Films erfahren wir, dass nicht Emil, sondern Bastis Mutter diese Antwort schrieb, während sie sein Rad im Wald versteckte und ihr Mann die Leiche entsorgte. Doch vorher wurde gesagt, dass Emils Mutter seit 19 Uhr bei ihnen zu Hause zu Gast war. Wie können Bastis Eltern gleichzeitig im Wald sein und Emils Mutter bewirten? Freue mich auf erhellende Antworten

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    1. Ganz einfach: Emils Mutter war bei einer anderen Familie zu Gast.

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  15. Bin überhaupt kein Fan dieser "unter der bedrückend ruhigen Oberfläche brodelt es enorm" Mechanik bei Krimis. Leider ist das der einzige Inhalt in diesem Tatort. Inhaltlich reichlich leer. Was ist schon passiert ? Ein jugendlicher Psychopath bringt seinen Freund um. Wahnsinn. Toller Whodunnit. Stilistisch hochwertig. Geschenkt.

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  16. Eine beklemmende Geschichte mit unfassbarem Ende. Ein außergewöhnlicher Tatort und für die Münchner, wie fast immer - absolut top Leistung. Mit Batic und Leitmayr ist es ähnlich wie mit einem guten Wein - je älter, desto besser! Die Münchner Tatorte sind schon auf hohem Niveau und steigern sich trotzdem immer wieder - absolut genial!

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  17. Ein faszinierender, beklemmender Tatort, der einen so schnell nicht loslässt. Wird dem Bildungsauftrag gerecht, ohne dass es auf Kosten des Krimis geht: Ganz im Gegenteil, eher entfaltet der Krimi gerade durch diesen Hinweis auf einen Missstand im deutschen Rechtssystem seine ganze Wucht.
    Allerdings hat mich die Vorhersehbarkeit der Auflösung doch empfindlich gestört. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn der Mörder von Anfang an bekannt gewesen wäre. Aus diesem Grund von mir "nur" 7/10.

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