Marlon

Folge: 1200 | 8. Mai 2022 | Sender: SWR | Regie: Isabel Braak
Bild: SWR/Christian Koch
So war der Tatort:

Inhaltlich eng verwandt mit einem der besten deutschen Filme nach der Jahrtausendwende – mit Nora Fingscheidts überragendem Sozial-und-Pädagogikdrama Systemsprenger nämlich, das fast drei Dutzend Filmpreise abräumte und 2020 als deutscher Beitrag für den besten internationalen Film bei den Oscars ins Rennen ging (es aber nicht auf die Shortlist schaffte).

Fingscheidts Debütfilm, der hier Pate stand, ist ein erschütterndes, schwer auszuhaltendes Werk – und das gilt in gewissem Maße auch für diesen Tatort aus Ludwigshafen. Anders als bei manchem Rohrkrepierer der letzten Jahre (wir denken zurück an Folgen wie Babbeldasch, Waldlust oder Die Sonne stirbt wie ein Tier) ist das diesmal aber als Gütesiegel zu verstehen: Der 75. Tatort mit Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) ist nach über 30 Dienstjahren tatsächlich einer ihrer besten, weil intensivsten und relevantesten.

Der achtjährige Viertklässler Marlon (Lucas Herzog), dem der Krimi seinen Titel verdankt, ist ebenfalls ein Systemsprenger: Er passt nicht in unser Schul- und Erziehungssystem. Er bringt seine Eltern, Lehrer und Mitschüler durch Wutausbrüche und Gewalt zur Verzweiflung. Und er wird in diesem Tatort eine Grundschultreppe hinunter in den Tod gestoßen.

Das ruft neben Lena Odenthal auch Kollegin Johanna Stern (Lisa Bitter) und SpuSi-Chef Peter Becker (Peter Espeloer) auf den Plan: Einen Unfall schließt Becker aus und es gilt, den Mörder in der Schule zu finden. Drehbuchautorin Karlotta Ehrenberg, die zum ersten Mal für die Krimireihe schreibt, richtet den Scheinwerfer auf Marlons Mitschülerinnen und Mitschüler, ihre Eltern und den Lehrkörper. Und auf den überbeschäftigten Sozialarbeiter Anton Leu (Ludwig Trepte, Dicker als Wasser), der dringend Verstärkung und mehr Arbeitszeit braucht: Eine halbe Stelle kann die Schule sich leisten. Angemessen wäre das Vierfache.

Der 1200. Tatort selbst ist strukturell allerdings kein Systemsprenger. Vielmehr ist er arrangiert als Whodunit aus dem Lehrbuch, der das Formelhafte selten abstreift: Dem einleitenden Fund der Leiche folgen die üblichen Befragungen in der Schule und im Elternhaus. Im Dienstwagen rekapitulieren Odenthal und Stern tapfer den Sachstand, auf Pinnwänden im Präsidium hängen die Fotos der Verdächtigen. Einer von ihnen gerät früh und spät ins Blickfeld – alles sehr klassisch und wenig überraschend. Die Relevanz des Krimis schmälert die Vorhersehbarkeit der Auflösung aber kaum, denn unter Regie von Isabel Braak (Rettung so nah) vermittelt er eine wichtige Botschaft. Er hat etwas zu sagen.


LEU:
Kinder sind nicht das Problem. Sie haben eins.

ODENTHAL:
Was war denn Marlons Problem?

LEU:
Ich denke, er wollte, dass man ihm zuhört.


Die Filmemacher greifen dabei auch die offenen Flanken im deutschen Schulsystem an: Kinder, die nicht ins System passen, werden passend gemacht. Und wer sich nicht passend machen lässt, für den ist der übliche Bildungsweg häufig passé. Auch Madita Ritter (Hanna Lazarakopoulos) und Pit Stanovic (Finn Lehmann) können ein Lied davon singen. Pit ist sogar auf dem besten Weg, in Marlons Fußstapfen als Fremdkörper zu treten.

Es ist typisch für die Krimireihe, dass sich das Thema in den Erfahrungen der Ermittlerinnen spiegelt, und auch hier finden die Filmemacherinnen eine relativ geschickte Lösung. Denn anders als Stern, die bekanntlich Mutter zweier Kinder ist und authentisch von eigenen Misserfolgen bei der Erziehung berichtet, ist Odenthal kinderloser Single. Ihre fehlenden Erlebnisse mit dem Nachwuchs macht sie durch Lebenserfahrung wett – und vor allem durch den zwar konstruierten, aber sehr zweckdienlichen Umstand, dass sie selbst ein Kind war, dass sich am liebsten geprügelt hat.

Neben dem Lehrkörper in der Grundschule sind da aber auch die Eltern, die mehr Unterstützung bräuchten: Wie sehr muss es an Gesa Janson (Julischka Eichel, Anne und der Tod) nagen, auf dem Spielplatz stets die Mutter zu sein, die hinter ihrem Sohn herrennen muss, damit der kein Unheil anrichtet? Dem auf Krawall gebürsteten Vater Oliver Ritter (Urs Jucker, Was wir erben) wiederum ist wohl jeder von uns schon einmal begegnet: Es gibt sie, diese Eltern, die nur das Beste für ihren Nachwuchs wollen, und denen dabei alle anderen Kinder egal sind. So viel Klischee darf sein.

Wären da nicht die bekannten Ludwigshafener Schwächen, die hohe Vorhersehbarkeit und das kitschige Zeitlupenfinale in Ballauf-und-Schenk-Manier: Marlon wäre ein noch stärkerer Beitrag zur Krimireihe geworden. Doch die Mängel sind da; die Inszenierung gerät hier und da etwas altbacken und auch so mancher Dialog im Präsidium wirkt sehr aufgesagt. Gerade Edith Keller (Annalena Schmidt) trägt außer Dialekt wenig bei. Mit Blick auf das letzte Jahrzehnt ist dieser Odenthal-Tatort dennoch ein Quantensprung.

Bewertung: 7/10



📝 So war der Vorgänger: Kritik zum Franken-Tatort "Warum"

8 Kommentare:

  1. Ein sehr brisantes und aktuelles Thema. Die Verzweiflung aller Beteiligten wurde sehr gut aufgezeigt. Die Ursachen blieben jedoch weitgehend im Dunkeln. Die Aussage, Kinder wollen gehört werden, ist ja richtig, aber erklärt für mich nicht das Aggressionspotenzial der Kinder in diesem Alter.

    AntwortenLöschen
  2. Der war gut!!! Ein sehr aufwühlender Fall und die Ermittlerinnen haben ihn angenehm mitgetragen, ohne sich zu sehr in den Vordergrund zu stellen. Eine öfters ruhigere Odenthal hat mir gefallen. Nun ja, hin und wieder wurde sie ja doch lauter, aber dann hat's auch gepasst in diesem nervenaufreibenden Fall. Die Schauspieler/innen haben ihre Sache insgesamt gut gemacht! Tolle Leistung der Kinder! Jedes hat die Rolle glaubhaft und natürlich rübergebracht. Der Tatort hat wirklich mitgerissen, gefesselt und einen mitleiden lassen. So darf es weitergehen mit dem Team. Nur der guten Frau Keller gönnt man langsam den Abschied in den Ruhestand... ;-)

    AntwortenLöschen
  3. Perfekte Kritik! Dem stimme ich zu 100% zu.

    Die für die Reihe so typische Systemkritik wird gekonnt mit einem spannenden Kriminalfall und einer angemessenen Prise Privatleben der Kommissarinnen vermengt.

    In den Blick geraten eine Schule, überforderte Eltern des "Problemkindes", der übervorsorgliche Vater eines perfiden Mädchens - und natürlich auch die Kinder selbst. Was hätten die Schule und die Eltern tun können? Wie ist das Verhalten der Kinder zu erklären? Ist Zuwendung nicht das, was sie letztendlich brauchen?

    Diese Fragen stellen sich die Ermittlerinnen und können dabei aus unterschiedlichen Perspektiven die Situation beurteilen. Sie sehen nicht nur schwarz und weiß, sondern befassen sich konstruktiv damit, wie man Marlon hätte helfen können und müssen. Ihr Privatleben und ihre Persönlichkeit wird damit zu einem wichtigen Bestandteil des Films.

    Dieser Tatort ist gespickt mit reizvollen Figuren, deren Handeln man nachvollziehen kann, obwohl es nicht richtig ist: Marlons Mutter ist bemitleidenswert, und doch kann man ihr Vorwürfe machen, nicht genug auf die Bedürfnisse ihres Kindes eingegangen zu sein. Und Maditas Vater möchte nur seine Tochter schützen, verliert dabei jedoch die Situation als Ganzes aus dem Blick. Zudem erkennt er nicht, wie seine Tochter jede Situation ausnutzt, um im Mittelpunkt zu stehen.

    Besonders interessant sind die Kinder - Marlon, Pit und Madita: Allesamt sind an ihrem Verhalten nicht wirklich Schuld. Alle drei haben sehr stark gespielt: Mein großes Lob!
    Sehr angenehm sind auch die Kommissarinnen: Odenthal hat keine übertriebenen Eskapaden und geht behutsam, aber mit Respekt mit den Kindern um. Stern tritt nicht mehr so "lässig" auf wie noch vor einigen Monaten. Keller andererseits hätte man genausogut streichen können. Schade.

    Die Anzahl an Schwächen fällt gering aus, doch es gibt sie: Da sind zum einen die nicht durchgehend vollends überzeugenden schauspielerischen Leistungen. Zum anderen ist die Auflösung ziemlich vorhersehbar. Leider wurde zudem am Ende zu offensichtlich auf die Tränendrüse gedrückt und damit die feine Grenze zum Kitsch überschritten. Auch sind einige Passagen im Drehbuch etwas lächerlich, da unlogisch: Aha, ein dichter Dickicht auf dem Schulhof, der ein erstaunlich lange unentdecktes Versteck verbirgt. Ach, wie praktisch, auch noch mit einer Überwachungskamera ausgestattet!

    Nichtsdestotrotz handelt es sich um einen guten Tatort, der sich 7/10 Punkte verdient hat. Damit zeigt der Pfeil bei Odenthal und Stern nach oben. Der absolut sehenswerte Fall "Der böse König" wurde mit "Marlon" nochmal getoppt. Bleibt nur zu hoffen, dass es in Ludwigshafen so bleibt!

    AntwortenLöschen
  4. Ich weiß, ihr seid immer sehr kritisch, daher vielen lieben Dank für die ehrliche Rezension! Die Kinder haben wirklich mit vollem Herzen gespielt!

    AntwortenLöschen
  5. Das war ein sehr guter Tatort mit tollen schauspielerischen Leistungen zu einem äusserst aktuellen Thema. Eltern, Lehrpersonen, das Schulsytem sind überfordert. Die Leidtragenden sind die Kinder. Die Kinder in diesem Tatort als Opfer und Täter zugleich mit psychologischem Tiefgang gezeichnet darzustellen, ist sehr überzeugend. 10 von 10 Punkten. Weiter so! Dank an das Ludwigshafner Team, dessen Kommissarinnen endlich mal zueinander gefunden haben und nicht mehr nerven, sondern ein tolles Team waren.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ein toller Tatort der sich mit Gesellschaftsthemen beschäftigt und den Beteigten, die vollkommen überfordert sind. Wenn man selbst als Eltern mit Kindern in der Schule Probleme hatte, kann man die Positionen aller Beteiligten nachvollziehen . Unsere Kitas und Schulen sind teilweise Verwahranstalten und es gibt viel zu wenig Sozialarbeiter/innen an den Schulen. Da ist die Politik gefragt, was an dem System zu ändern und Kinder die Hilfe brauchen zu unterstützen und auch die Eltern, denen viel zu wenig beigestanden wird und die allein gelassen werden. Keiner der anderen Eltern hat Verständnis. Jeder denkt nur an sich selbst und das eigene Kind. Leider gibt es das auch in Wirklichkeit. Wir

      Löschen
  6. Sehr gut gemacht, und zeigt immer mehr die realen probleme der gesellschaft bei allen krisen derzeit sollten wir unser land mal mit der lupe betrachten und unseren polikern reisen in soziale brennpunkte wie koln chorweiler empfehlen

    AntwortenLöschen
  7. Gutes Thema. ABER:
    Die armen Schulsozialarbeiter. Welches Bild wird hier wieder einmal von einer Berufsgruppe skizziert?

    AntwortenLöschen