Erklärung und Interpretation zum Frankfurter Tatort "Erbarmen. Zu spät."

Der Frankfurter Tatort vom 10. September 2023 irritiert mit einem blutigen Finale. Hier erfährst du, wie wir das seltsame Ende interpretieren.

Bild: HR/U5 Filmproduktion/Daniel Dornhöfer

ACHTUNG, ES FOLGEN SPOILER!

Der Tatort Erbarmen. Zu spät. mit den Frankfurter Hauptkommissaren Paul Brix (Wolfram Koch) und Anna Janneke (Margarita Broich) klingt äußerst ungewöhnlich aus: Der Mörder des getöteten Polizisten Simon Laby (Sebastian Klein) wird von den Ermittlern zwar identifiziert und mit seinem Wagen angehalten, kann aber nicht überführt werden. Stattdessen passiert etwas Außergewöhnliches.

So endet der Frankfurter Tatort "Erbarmen. Zu spät."


Anna Janneke hat mit einigen Kripo-Kollegen soeben Labys Leiche ans Tageslicht befördert. Von den Tätern auf einem Acker verscharrt, stoßen die Polizisten auf die richtige Stelle, weil die Alarmfunktion Labys Armbanduhr piepsen lässt. Doch die Kugel, die dem Polizisten und werdenden Vater in den Kopf geschossen wurde, hat man aus dem Schädel entfernt. Janneke & Co. sind sich dennoch sicher: Beim Mörder handelt es sich um Peter Radomski (Godehard Giese), der den Mord gegenüber Brix bereits eingeräumt hatte und dabei seine Dienstwaffe verwendet hat.

Das kann man ihm allerdings nicht nachweisen: Brix, der vorübergehend in Radomskis Gewalt gerät, hat keinen Beleg für dessen Geständnis – und auf Radomskis Pickup, den die Polizei auf einer Landstraße stoppt, werden keine belastenden Beweise gefunden. Unter einer Plane liegt nicht etwa eine zweite Leiche, nämlich die des mutmaßlich von Radomskis Schergen hingerichteten Nazis Antonio Schilling (Niels Bormann), sondern ein totes Wildschwein, das kurz zuvor im Wald erlegt wurde.

Und dann geschieht etwas, was diesen Krimi auf der Zielgeraden ins Phantastische überhöht und die Verortung in der Realität verlieren lässt: Nach dem Fund des Keilers setzt ein heftiger Wolkenbruch ein. Nach wenigen Sekunden färbt sich der Regen rot und prasselt auf die Kripo-Beamten, die mutmaßlichen Täter und eine zufällig vorbeikommende Gruppe junger Partypeople hinab. Brix flüchtet sich ins Auto seines Kollegen Franz Decker (Uwe Rohde), der seinen Augen ebenfalls kaum traut, während das rote Wasser auf seine Windschutzscheibe schüttet.


BRIX:
Verdammt. Was ist das?


Direkt nach diesem irritierenden Wolkenbruch, der Radomski auffallend kalt lässt und vor dem auch die feiernden Jugendlichen zurück in ihre Partylimousine flüchten, setzt der Abspann ein. Die letzte Einstellung vor dem berühmten weiß-blauen Fadenkreuz zeigt eine junge Frau, die verstört in der Limousine sitzt, während ihre Freunde schon wieder eine Champagnerflasche köpfen und Handyvideos vom Blut auf der Fensterscheibe drehen.

So interpretieren wir das Tatort-Finale


Eines gleich vorweg: Weder im Presseheft des Hessischen Rundfunks noch im vorab veröffentlichten Kurzinterview mit Regisseur und Drehbuchautor Bastian Günther sind Hinweise darauf zu finden, wie das blutige, bewusst ins Übernatürliche überhöhte Finale zu verstehen ist. Vielmehr bleibt es dem Publikum überlassen, sich seinen eigenen Reim auf das merkwürdige Geschehen zu machen. Ungewohnt für einen Tatort – im Arthouse-Kino aber durchaus an der Tagesordnung.

Der rote Wolkenbruch ist nicht die erste Sequenz, in der Filmemacher Günther mit dem Blutmotiv spielt: Zum Auftakt des letzten Filmdrittels begleitet Brix, der sich von Radomski und dessen Kollegen überlisten lässt, auf eine nächtliche Jagd in den Wald. Als sie durchs düstere Unterholz streifen, durchqueren sie ein Waldstück, das ebenfalls in blutrotes Licht getaucht ist. Radomski, Brix & Co. waten dabei auch durch einen Fluss, dessen Wasser sich rotgefärbt hat.

Radomski, Brix & Co. auf der Jagd.
Bild: HR/U5 Filmproduktion/Daniel Dornhöfer

Für diese Ästhetik finden wir zwei Erklärungsansätze: einen biblischen und einen weltlicheren.

Der biblische Ansatz: Bereits die erste der Zehn biblischen Plagen, über die im 2. Buch Mose des Alten Testaments berichtet wird, kommt ähnlich daher: Das Wasser in Ägypten wird für sieben Tage ungenießbar. Mose schlägt in der Bibel mit seinem Stab ins Wasser des Nils und der Strom verwandelt sich in Blut. Auch die siebte und neunte biblische Plage, der Hagel und die Finsternis, weisen Parallelen zu diesem Tatort auf: Während der Niederschlag in Ägypten die Ernte vernichtet, verwischt er im Film die Spuren auf Schillings Ermordung. Die Finsternis wiederum zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Krimi, der über weite Strecken nachts spielt und sehr reduziert ausgeleuchtet ist.

Doch was hat das mit der eigentlichen Geschichte des Films zu tun? Darüber lässt sich nur spekulieren: In der Bibel straft Gott mit den Plagen den Pharao dafür, dass dieser Mose und das Volk Israel nicht abziehen lässt. Als Mose das Meer teilt und mit den Israeliten hindurch flüchtet, folgt der Pharao ihm mit seinem Heer, findet aber mit seiner Gefolgschaft den Tod in den Fluten. Wer in diesem Tatort für sein Tun bestraft werden könnte, bleibt offen: Die Ermittler, die den Täter nicht überführen, die rechten Polizisten, deren Morde wohl ungesühnt bleiben – oder auch die Jugendlichen, die bei ihrer dekadenten Limousinenparty keinen Respekt vor der Staatsgewalt an den Tag legen und mit Ausnahme einer jungen Frau gar nicht ahnen, was sich da in Hessen Gefährliches abspielt. Feiernd in den Untergang.

Der weltlichere Ansatz: Einen weiteren Ansatz zur Interpretation liefert einer der letzten Wortwechsel zwischen Brix und Radomski. Als der mutmaßliche Täter den Kommissar darauf hinweist, dass es in Kürze Regen geben soll und keine Spuren mehr auf Schillings Ermordung zu finden sein werden, reagiert Brix angemessen überrascht:


BRIX:
Denkste, wir finden keine Spuren?
RADOMSKI:
Lass das mal unsere Sorge sein. Außerdem soll das heute Morgen regnen, hab ich gehört.
BRIX:
Ach, das Wetter machste jetzt auch noch.
RADOMSKI:
Wenn wir wollen, dass es regnet, dann regnet es.


Die Tatsache, dass es am nächsten Morgen exakt wie von Radomski angekündigt (Blut) regnet, könnte man so verstehen: Die Filmemacher wollen damit die tödliche Gefahr und die Macht unterstreichen, die von dem rechten Polizeinetzwerk ausgeht, und zugleich die Machtlosigkeit der rechtschaffenen Polizisten aufzeigen, die nicht selbst Teil des Netzwerks sind. Wenn Radomski Regen will, dann regnet es – da können Brix & Co. machen, was sie wollen.

Kommt ungeschoren davon: Radomski, charismatisch verkörpert von Godehard Giese.
Bild: HR/U5 Filmproduktion/Daniel Dornhöfer

Der blutige Regen ließe sich auch als Symbolbild für eine nahende Apokalypse interpretieren, die im Tatort mehrfach eine Rolle spielt: Der ermordete Polizist Laby hat in seiner Hütte große Mengen an Essensvorräten, Waffen und Munition gebunkert, um autark leben und einen Bürgerkrieg oder ein anderes Endzeit-Szenario überleben zu können. Ein anderer Prepper habe, so erfahren wir auf der Tonspur, Vorräte unter seiner Sauna im Garten gehortet. Der in der Reichsbürger-Ideologie und der rechten Szene fest verankerte Traum vom baldigen Staatssturz wird auch von Radomski angedeutet:


RADOMSKI:
Weißt du, Paul? Nächstes Jahr um die Zeit wird es Hinrichtungen geben. Und wir werden Eintritt verlangen.


Ob wir mit diesen Interpretationsansätzen richtig oder völlig daneben liegen, möge jeder für sich selbst entscheiden – sicherlich sind auch andere Erklärungen möglich. Fest steht aber, dass Erbarmen. Zu spät. ein ästhetisch und dramaturgisch außergewöhnlicher Krimi ist, an dem sich die Geister fast zwingend scheiden müssen. So spielen die Filmemacher an anderer Stelle zum Beispiel auch mit unnatürlichem Licht, das plötzlich Gesichter oder einen ganzen Streifenwagen von oben erhellt. Auch hier bleibt es dem Publikum überlassen, sich seinen eigenen Reim auf das Gesehene zu machen.

Ein Ziel hat der Film in jedem Fall – ob so gewollt oder nicht – mühelos erreicht: Er zeigt auf, wie viele Wutbürger es hierzulande gibt. Dazu reicht ein Blick in die Kommentarspalten unter unserer Kritik oder in den sozialen Medien.

Licht aus, Spot an: ein erleuchteter Streifenwagen im Frankfurter Tatort.
Bild: HR/U5 Filmproduktion/Daniel Dornhöfer