Kindergeld

Folge: 140 | 22. August 1982 | Sender: NDR | Regie: Hartmut Griesmayr
Bild: NDR
So war der Tatort:

Fast-ohne-Kommissar. Denn der Ermittler spielt im 140. Tatort, der in wesentlichen Teilen an der Costa del Sol inszeniert wurde, nur eine bescheidene Nebenrolle.

Drehbuchautor Herbert Lichtenfeld und Regisseur Hartmut Griesmayr, die bereits den Piper-Erstling Streifschuss realisierten, erzählen diesmal eigentlich gar keinen Kriminalfilm. Wieder einmal steht ein Protagonist im Zentrum eines Lichtenfeld-Drehbuchs und versucht, eine vermeintlich günstige Gelegenheit für sich zu nutzen. Dabei verstrickt er sich immer weiter in eine Situation, aus der er nicht mehr herauskommt. Dieses Grundkonstrukt findet sich ganz ähnlich auch in den Büchern zu Kurzschluss, Eine todsichere Sache und natürlich Streifschuss aus Bremen.

Der Geschäftsmann Herbert Hoffmann (Dieter Kirchlehner, Strandgut) ertappt beim Urlaub in Spanien das Zimmermädchen Ines Flores (Cornelia Bayr, Streifschuss) bei dem Versuch, sein Portemonnaie aus seinem Hotelzimmer zu stehlen. Er verzichtet zwar auf eine Anzeige, verschiebt aber seine Abreise und quartiert sich im Haus seines Bekannten Harald Lieck (Raphael Wilczek, Nebengeschäfte) ein. Dort erpresst Hoffmann die junge Frau und nötigt sie zum Beischlaf – als Gegenleistung dafür, dass er nicht zur Polizei geht.

Nach einigen Monaten erhält Lieck – nun wieder in Hamburg – ein Erpresserschreiben: 10.000 Mark fordern Unbekannte – ausgerechnet von ihm, dem mittellosen Vertreter, der sich permanent in finanziellen Schwierigkeiten befindet und gelegentlich von seiner Freundin Ulrike Hentsch (Monika Lundi) aushalten lässt. Die ist entsprechend irritiert.


HENTSCH:
Das muss doch jemand sein, der dich und deine Lage völlig falsch einschätzt. 10 Mark? Ok, die kannst du zur Not noch auftreiben. Aber 10.000? Also wirklich.


Zunächst ist ihm tatsächlich völlig unklar, was sich hinter der Forderung verbirgt. Bald versteht er aber, dass Paco (Francisco Catala) und Alberto Flores (Fernandez Toledo), die wenig zimperlichen Brüder von Ines, ihn mit Hoffmann verwechseln. Also versucht Lieck seinerseits, Hoffmann zu erpressen.

Als Zuschauer ahnt man früh, wie diese Auseinandersetzung enden wird: Zu eindeutig ist das Gegensatzpaar von Anfang an aufgebaut. Dieter Kirchlehner stellt den skrupellosen Sunnyboy und Gewinner mit großer Spielfreude dar, jederzeit erkennbar seine Lust, den Fiesling und Unhold zu mimen. Ihm setzt Raphael Wilczek einen erfolglosen Kleinunternehmer entgegen, der allerdings nie die Hoffnung verliert, irgendwann mal das große Los in die Hand zu bekommen, um seinem kleinbürgerlichen Leben entfliehen zu können.

Aus dieser einfachen Konstellation entwickelt Lichtenfeld einen überraschend spannenden Film. Fein ausgeklügelt sind die Wendungen, die das Geschehen nimmt. Kurzweilig entwickelt sich eine kleine Tragödie, die immer mehr Fahrt aufnimmt – erst im schmuddeligen Hamburg, dann zum Finale an der sonnigen Mittelmeerküste. Dabei sparen aber weder Buch noch Inszenierung mit der Darstellung von vorurteilsbeladenen angeblichen Moral- und Ehrvorstellungen einer typisch spanischen Familie. Scham und die Angst vor öffentlicher Schande für Ines und die Familie treffen auf die Sittenlosigkeit eines deutschen Unternehmers, der selbst in der einmaligen Zahlung von Kindergeld noch einen ökonomischen Vorteil gegenüber einer langfristigen Alimentierung erkennt

Eindeutiger Pluspunkt des Films sind aber die durchweg plausibel aufgebauten Charakterisierungen und die Figurenentwicklung. Dazu gehören gerade die Frauen, die die beiden Hauptfiguren flankieren: Neben der schon erwähnten Freundin Liecks sind das vor allem Rosita (Miriam Mahler), eine Verwandte von Ines, die sich als Vermittlerin dem frauenverachtenden Auftreten von Hoffmann entgegenstellt, und Hoffmanns Ehefrau Susanne (Linde Fulda), die die Affären ihres Mannes fast beiläufig zur Kenntnis nimmt. Jeweils auf ihre Art transportieren ihre Rollen ein vermeintlich aufgeklärtes Verständnis von Emanzipation.

Einzig an der Arbeit der Polizei sind die Filmemacher so wenig interessiert, dass sich die Frage stellt, warum sich für die letzten 12 (!) Minuten des Films überhaupt noch ein Kommissar aus Deutschland auf den Weg in Spaniens Süden aufmacht. Bis zur Schlussviertelstunde sind überhaupt keine Ermittler mit dem Geschehen befasst – und so bleibt der norddeutsche Hauptkommissar Jochen Piper (Bernd Seebacher) bei seinem zweiten und zugleich letzten Auftritt in der Krimireihe lediglich ein blasser Sidekick seines spanischen Kollegen.

Bewertung: 6/10

Wat Recht is, mutt Recht blieben

Folge: 136 | 2. Mai 1982 | Sender: NDR | Regie: Volker Vogeler
Bild: NDR
So war der Tatort:

Wortkarg.

Denn an der Unterelbe kurz vor Cuxhaven ticken die Uhren noch anders: Unendlich viel Zeit nimmt sich Regisseur Volker Vogeler schon zu Beginn seiner ersten (und zugleich einzigen) Tatort-Folge, um die Landschaft zu entdecken. Dass er den Fokus seines Krimis auf die Bilder legt, wird schon bei der Wahl des Filmformats deutlich: Das Super-16-Material ist für die Ausstrahlung nicht – wie damals üblich – auf 4:3 editiert worden, sondern auf eine Größe von ca. 1:1,67; es erreicht also annähernd das Kinoformat, das die Horizonte des Küstenlandstrichs am besten zur Geltung bringen kann. 

Weit und statisch sind die Einstellungen hintereinander geschnitten, kaum ein Schwenk und – das gilt für die gesamten 78 Minuten des Films – fast immer verharrt die Einstellung länger auf Gesichtern und Landschaften, als es der Erwartung des Publikums entspricht und als es für die Handlung notwendig ist. Verzögerung wird zum Stilmittel. Noch weiter verlangsamt wird die 136. Tatort-Folge dadurch, dass die Untertitel, die die plattdeutschen Dialoge übersetzen, nie simultan, sondern deutlich verschleppt eingeblendet werden. 

Nur keine Hektik. 

Eine aufreizende, ja kaum zu ertragende Ruhe durchzieht diese eigenwillige Charakter- und Regionalstudie. Die für die Krimireihe konstitutiv formulierte "Regionalität" wird in Wat Recht is, mutt Recht blieben bemerkenswert auf die Spitze getrieben. 

Einerseits ein Stück, dass mit den großartigen Bildern von Kameramann Günther Wulff (Himmelfahrt) das Land Hadeln so einfängt, wie es sich Anfang der 80er Jahre tatsächlich darstellt; ein wenig hinter der Zeit eben. Ein früher Versuch auszuloten, welche dramaturgischen Möglichkeiten die Fernsehreihe bietet. Andererseits auch ein Spielfilm, dessen erzählerische Feinheiten im Drehbuch von Elke Loewe (nach einer Erzählung von Boy Lornsen) fast zwangsläufig hinter der Inszenierung verschwinden (müssen).

Vier alte Männer, die ihr Leben lang zu See gefahren sind (Laienschauspieler und Börtebootführer von der Insel Helgoland) verbringen ihren Ruhestand in einem Dorf an der Elbmündung. Das Leben zieht an ihnen vorbei; aus dem strukturierten Alltag zwischen ihrer Bank am Deich, der Gastwirtschaft "Zur Schleuse" und Schifferknoten holt sie der Rauschgifttod eines Enkelkinds. Ruhig fließt die Elbe an ihrem Dorf vorbei, als eines Morgens ein Toter auf einem der Segelboote im Hafen entdeckt wird. 

Hauptkommissar Nikolaus Schnoor (Uwe Dallmeier, Ein ganz gewöhnlicher Mord), Assistent Wilke (Ralf Richter, Duisburg-Ruhrort) und ihre Kollegen aus Otterndorf und Stade nehmen die Ermittlungen auf. Schon bei Schnoors erstem Auftritt wird deutlich, dass er seine Wurzeln ebenfalls an der Unterelbe hat. Er versteht und spricht die plattdeutsche Sprache, überlegt jedes einzelne Wort, setzt zum Sprechen an, wägt erkennbar ab – und schweigt dann doch wieder. Nur knapp werden seine Recherchen dokumentiert. Für die Zuschauer ist sowieso klar, warum der Segler sterben musste. Weder die Täterfrage noch die Auflösung und Überführung des Täters können die Handlung vorantreiben. 

Was bleibt, sind stoische Dorfbewohner, die so gar nicht den Vorstellungen von einer verschworenen Gemeinschaft entsprechen. Uwe Ochsenknecht (Schönes Wochenende) irritiert seinen Mitbewohner kaum, als er in einer hinreißenden Miniatur Chico Marx‘ legendäre Szene "I’d kill for money" aus The Cocoanuts rezitiert. Ein aufgeweckter kleiner Junge mit türkischen Wurzeln, ein aus Ostpreußen vertriebenes Ehepaar – der Mord unterbricht ihren Alltag nicht. Und über allem spielen Mundharmonika und Perkussion eine westernähnliche Melodie von der Sehnsucht nach Weite. So ist halt das Leben: Weder den Kommissar, noch die anderen Figuren kann irgendetwas aus ihrer lakonischen Ruhe bringen. 

Wat Recht is, mutt Recht blieben ist im Vergleich zum Finke-Tatort Jagdrevier ein noch weiter entschleunigter NDR-Tatort, der gleichwohl atmosphärisch dicht ein stimmiges Bild der Unterelb-Landschaft und -Bewohner zeichnet. Als Kriminalfilm betrachtet, fehlen allerdings Handlung und ein Plot, der den Namen verdienen würde. So ereilt dann auch Kommissar Schnoor dasselbe Schicksal wie die NDR-Kollegen Nagel, Greve, Beck und Ronke: Es bleibt bei einem einzigen, hier allerdings ziemlich denkwürdigen Auftritt.


SCHNOOR:
Bei Flut wird geboren, bei Ebbe gestorben.


Bewertung: 6/10