Pauline

Folge: 640 | 24. September 2006 | Sender: NDR | Regie: Niki Stein
Bild: NDR/Christine Schröder
So war der Tatort:

Kommissarreich. 

Dass LKA-Kommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) bei ihren Ausflügen in die niedersächsische Provinz in der Regel von der ortsansässigen Dorfpolizistin – diesmal: der auffallend unterwürfigen Katharina Lichtblau (Johanna Gastdorf, Gestern war kein Tag) – unterstützt wird, ist zwar nichts Neues. Doch die Besetzung von Pauline ist aus heutiger Sicht besonders bemerkenswert. 

Neben Furtwängler zählen nämlich auch zwei spätere Tatort-Kommissare zum Cast: Martin Wuttke (Todesstrafe),der ab 2008 als Hauptkommissar Andreas Keppler mit Eva Saalfeld (Simone Thomalla) in Leipzig auf Täterfang geht, und Wotan Wilke Möhring (Mord auf Langeoog), der als Bundespolizei-Ermittler Thorsten Falke ab 2013 in Norddeutschland zum Einsatz kommt, sind in der Rolle als Vater und Freund des Opfers ebenso mit von der Partie wie viele weitere prominente deutsche TV-Gesichter. 

Corinna Harfouch (Die Ballade von Cenk und Valerie) mimt Martha Kandis, die Mutter des Opfers, Max Mauff (Kleine Herzen) den Jugendlichen Moritz, Anna Maria Mühe (Stille Wasser) die große Schwester Nele, Thomas Arnold (Eine andere Welt) den an einer Kussphobie leidenden Patenonkel Guntram Schollenbruch und Max Herbrechter (Quartett in Leipzig) den Dorfpfarrer Melchior Lichtblau, der nicht weiß, wie er seiner aufgeschreckten Gemeinde den Tod der 12-jährigen Pauline (Nelia Novoa) begreiflich machen soll. 

Denkt man an das ungeschriebene Tatort-Gesetz, dass der prominenteste Nebendarsteller meist den Mörder mimt, genießt der 640. Tatort also einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil: Die TV-Stars geben sich praktisch die Klinke in die Hand und die Auflösung fällt schwer wie selten.

Drehbuchautorin Martina Mouchot (Sonne und Sturm) und Regisseur Niki Stein (Das Böse) konstruieren nahe der niedersächsischen Samtgemeinde Jesteburg einen Whodunit der klassischsten, wenn auch selten wirklich spannenden Sorte: Eine Handvoll Verdächtiger, die alle mehr oder weniger starke Tatmotive mitbringen, eine knappe, aber präzise Einleitung, in der sich die verschiedenen Dorfbewohner zu Wolle-Petry-Coversongs auf dem Dorffest betrinken, und bodenständige Ermittlungsarbeit, bei der die grippegeschwächte Lindholm diesmal weniger fleißig von ihrem Mitbewohner Martin Felser (Ingo Naujoks) unterstützt wird. Der ist gesundheitlich nämlich gehandicapt und spielt zu Reha-Zwecken lieber mit drei Rentnerinnen Doppelkopf, als Charlotte bei der Tätersuche zur Hand zu gehen. 

Diese nervtötenden und leider gänzlich witzlosen Spannungskiller hätte man besser aus dem Drehbuch gestrichen – eine Folge ohne Naujoks, der die hoffnungslos überzeichnete Rolle als treudoofer Schriftsteller 2010 frustriert niederlegt, hätte dem Tatort aus Hannover auch 2006 schon gut zu Gesicht gestanden. Außer Naujoks wird aber auch der Rest der prominenten Darstellerriege – allen voran die vollkommen verschenkte Anna Maria Mühe – selten gefordert: Einzig Martin Wuttke darf in der Rolle als trauernder Vater angetrunken durch die Dorfkneipe berserkern. 

Und Furtwängler? Die lässt sich tatsächlich bei einem harmlosen Stiefel-Fehltritt in den Bach, an dem die Leiche gefunden wird, doublen (einfach mal auf Schnitt und Kameraführung achten): Die Füße könnten ja nass werden. Pauline ist dennoch sehenswert – ein bisschen holprig inszeniert, aber prominent besetzt und mit einer kniffligen Auflösung gesegnet.

Bewertung: 6/10

Mann über Bord

Folge: 639 | 10. September 2006 | Sender: NDR | Regie: Lars Becker
Bild: NDR/Marion von der Mehden
So war der Tatort:

Schwedisch.

Denn bei seinem siebten Einsatz für die Krimireihe ermittelt Hauptkommissar Klaus Borowski (Axel Milberg) nicht allein auf norddeutschem Terrain, sondern pendelt des Öfteren auf der "Scandinavica", einer Fähre zwischen seinem eigentlichen Einsatzort Kiel und der schwedischen Hafenstadt Göteborg. Der Grund dafür ist das plötzliche Verschwinden von Hans Venske (Jan-Gregor Kremp, Frauenmorde): Er arbeitet als Kapitän auf eben jener Fähre, auf der sich einleitend zufällig auch Borowski befindet, als er gerade von einem Angelurlaub zurückkehrt und direkt zum Ansprechpartner für die besorgte Crew wird. Wie praktisch!

Die Ausgangssituation der 639. Tatort-Folge ist damit durchaus interessant – stellt sich doch zunächst die Frage, was mit dem titelgebenden Mann über Bord überhaupt geschehen sein mag. Ein schlichter Suizid? Ein ausgeklügelter Versicherungsbetrug? Oder doch ein klassischer Mord? 

Verdächtige gibt es jedenfalls reichlich: Da ist allen voran der trinkfreudige Erste Offizier Björndahl (stark: Peter Haber, spielte in der schwedisch-deutschen Erfolgsserie Kommissar Beck den titelgebenden Ermittler), der mit seiner Position als Nummer Zwei auf dem Schiff unzufrieden ist und kurz vor dem Verschwinden seines Vorgesetzten Streit mit Venske hatte. Gleiches gilt für die unbekannte Frau, mit der Venske noch auf der Brücke telefonierte, um danach mit zwei Sektgläsern in seiner Kabine zu verschwinden. Dass es sich bei der geheimnisvollen Anruferin nicht, wie vom Kapitän behauptet, um Annemarie Venske (Catrin Striebeck, Atemnot) handelt, die treusorgende, aber oft alleingelassene Ehefrau, stellt diese gegenüber Borowski sichtlich verwundert klar. Und was weiß der zurückhaltende Steuermann Töre (Volker Zack Michalowski, Der Traum von der Au)?

So vielversprechend der Auftakt sich gestaltet, schaffen es die Filmemacher um Regisseur Lars Becker (Der Weg ins Paradies) und Drehbuchautorin Dorothee Schön (Bitteres Brot) in der Folge nicht immer, die sich bietenden Möglichkeiten auszuschöpfen und das Anfangsniveau zu halten. Echte Überraschungsmomente bleiben eine Seltenheit, etwa wenn Borowski mit der schwedischen Kollegin Wallström (Ewa Fröling) die Sachen des Vermissten durchsucht und dabei in dessen Spind nicht nur eine Kinderzeichnung findet, sondern auch feststellt, dass es sich bei der Begünstigten der vorhandenen Lebensversicherung mitnichten um Frau Venske handelt. 

Ansonsten ist die deutsch-schwedische Zusammenarbeit eine reizvolle Idee, geht aber bisweilen auf Kosten der Spannung. Die Befragungen des Kommissars auf der Scandinavica bringen kaum neue Erkenntnisse und bremsen die Handlung eher aus. Dass an der Schiffsbar zweimal sanft The winner takes it all von ABBA zu hören ist, bleibt motivisch gesehen ein nettes Bonmot, tröstet aber nicht darüber hinweg, dass auch die Auflösung früh zu erahnen ist und erfahrene Krimifans kaum vor größere Probleme stellen dürfte. Da Borowski die entscheidende Äußerung überhört oder nicht richtig deutet, zieht sich das letzte Drittel des Films auch etwas in die Länge.

Was Mann über Bord dennoch zu einem sehenswerten Tatort macht, ist etwa die stärkere Präsenz von Frieda Jung (Maren Eggert), die bis dato lediglich für die Psyche des Kommissars zuständig war, hier aber in ihrer Funktion als Kriminalpsychologin auch erstmals aktiv in den Fall involviert ist. Das große Potenzial in der Beziehung zwischen ihr und Borowski, das den Kieler Tatort auch in den kommenden Jahren bereichert, wird hier zwar vorerst nur angedeutet – das Zusammenspiel funktioniert aber auf Anhieb und wirkt ungemein erfrischend. Ebenfalls positiv hervorzuheben sind die fein dosierten, treffsicheren Gags, etwa wenn Borowski und Kriminalrat Roland Schladitz (Thomas Kügel) darüber philosophieren, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, eine Leiche im offenen Meer zu finden.


SCHLADITZ:
Glaubst du im Ernst, wir finden die Leiche?

BOROWSKI:
Mit etwas Glück. Dort gibt es viele Dorschkutter.

SCHLADITZ:
Venske ist in der Zwischenzeit Dorschfutter.


Wer über die genannten Drehbuchschwächen hinwegsehen kann, sieht einen soliden und über weite Strecken unterhaltsamen Krimi – und kann sich darüber hinaus am Spiel des hervorragend aufgelegten Casts erfreuen. Zu dem zählt auch Martin Brambach, der ab 2016 den cholerischen Kommissariatsleiter Peter Michael Schnabel im Tatort aus Dresden mimt und hier in einer kleineren Nebenrolle als Bürochef der Kieler Reederei zu sehen ist.

Bewertung: 6/10