Mörderspiele

Folge: 565 | 25. April 2004 | Sender: WDR | Regie: Stephan Meyer
Bild: WDR/Michael Böhme
So war der Tatort:

Kopflos – doch zum Glück nicht im übertragenen, sondern lediglich im wörtlichen Sinne. 

Als Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) und Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) eine feinsäuberlich verschnürte Leiche aus dem nahe Münster gelegenen Aasee ziehen, ist die dank wasserdichter Verpackung nämlich noch ziemlich gut erhalten – nur fehlt ihr eben der Kopf, was die Zuordnung des Torsos nicht gerade zu einem Kinderspiel macht. 

Vielmehr sind es Mörderspiele, die die beiden Ermittler in einer der ernsteren Tatort-Folgen aus Münster gehörig auf Trab halten und lange an der Nase herumführen. Der Leichen-Fundort in einem See ist dabei noch der unspektakulärere: Die zweite Leiche wird nämlich – nicht minder aufwändig verpackt – publikumswirksam über den Dächern der Altstadt von Münster in Position gebracht und kann dort erst mithilfe eines Feuerwehrkrams geborgen werden. 

Ein Hauptverdächtiger ist mit Sigbert Helmhövel (Karl Kranzkowski, Wo ist Max Gravert?), dem Ehemann des mutmaßlichen ersten Opfers und Bruder der kaum minder tatverdächtigen Monika Hanke-Helmhövel (großartig: Rosel Zech, Veras Waffen), schnell ausgemacht – dumm nur, dass er wenig später von der Bildfläche verschwindet und mit seiner Schwester Monika nur noch eine echte Verdächtige übrig bleibt.

Dennoch wird Mörderspiele selten langweilig: Zum einen lässt Regisseur und Drehbuchautor Stephan Meyer lange im Unklaren, ob diese die Tat selbst erledigt hat, zum anderen steht sie in einem ganz speziellen Verhältnis zu Staatsanwältin Wilhelmine Klemm (Mechthild Grossmann). Welcher Natur dieses ist, soll an dieser Stelle nicht verraten werden – doch steht die kettenrauchende Juristin dadurch im 565. Tatort wie in kaum einem zweiten der Reihe im Fokus der Ermittlungen. 

Vor allem in der ersten Hälfte des Krimis ist Boerne und seine kleinwüchsige Assistentin Silke "Alberich" Haller (Christine Urspruch) vergleichsweise wenig Kamerapräsenz vergönnt, weil Klemm immer wieder mit Thiel über das weitere Vorgehen und die möglichen Konsequenzen für beide debattiert. Und spätestens auf der Zielgeraden, wenn der Kommissar seiner Vorgesetzten in bester Hollywood-Manier das Leben retten darf, wird klar: Mörderspiele ist ein eher untypischer Tatort aus Münster, denn es gibt vergleichsweise wenig humorvolle Passagen. 

Gelacht werden darf trotzdem: Spaßigste Sequenz ist diesmal Boernes folgenreicher Ausflug aufs Land, der ihn nach einer Autopanne direkt in die Arme von Hanke-Helmhövel führt. Und die wartet schon mit Rotwein auf den Professor. Na denn: Prost!

Bewertung: 7/10

Janus

Folge: 564 | 18. April 2004 | Sender: HR | Regie: Klaus Gietinger
Bild: HR/Bettina Müller
So war der Tatort:

Pseudopsychologisch.

Denn die Frankfurter Kommissarin Charlotte Sänger (Andrea Sawatzki), die einleitend bei der Beerdigung von ihren ermordeten Eltern Abschied nimmt und beim Leichenschmaus direkt zur nächsten Leiche gerufen wird, versucht sich in diesem Tatort als Psychologin – so wie es auch die Filmemacher tun, die damit aber (anders als die nah am Wasser gebaute Ermittlerin) auf ganzer Linie scheitern. 

Janus ist der zu diesem Zeitpunkt vierte und zugleich mit Abstand schwächste Krimi mit Sänger und ihrem Kollegen Fritz Dellwo (Jörg Schüttauf) – und das hat mehrere Gründe. Beginnen wir nicht mit den überzeichneten Tatverdächtigen oder dem phasenweise in die unfreiwillige Komik abdriftenden Drehbuch von Klaus-Peter Wolf (Licht und Schatten), sondern mit den enttäuschenden Jungschauspielern: Nach dem Mord an einer Schulpsychologin sind wir live im Klassenzimmer dabei – bekommen dort aber schauspielerische Leistungen geboten, die der besten Sendezeit im deutschen Fernsehen kaum würdig sind. Auch die hölzernen, stellenweise mit Präteritum und Konjunktiv gespickten Dialoge ("Sie sagte, ich sei ein Instrument seiner Rache!") hört man im Alltag eher selten.

Noch deutlich ärgerlicher gestaltet sich der Auftakt der Ermittlungen: Weder der anstrengende Staatsanwalt Dr. Scheer (Thomas Balou Martin) noch Kripochef Rudi Fromm (Peter Lerchbaumer) schreiten nennenswert ein, als die um ihre Eltern trauende Sänger bei der blutigen Tatort-Besichtigung spontan und eigeninitiativ anbietet, an der Schule in die Bresche zu springen und als Interimsnachfolgerin des Mordopfers undercover auf Täterfang zu gehen. 


SÄNGER:
Ich könnte das machen.

FROMM:
Aha, ja das ist die Lösung! Im Grunde genommen könnte man kaum verantworten, eine vollkommen unbedarfte Psychologin dieser Gefahr auszusetzen. Das ist ja ein bisschen so, als wenn man ein einzelnes Schaf auf ein Wolfsrudel treibt.


Bitte was? Eine just um ihre Eltern gebrachte Polizistin ohne Psychologiestudium oder einschlägige Erfahrung im Umgang mit Jugendlichen auf ein aus Internatsschülern bestehendes "Wolfsrudel" anzusetzen, ist eher nicht die naheliegende Lösung – sondern vielmehr so konstruiert, dass sich die Balken biegen. Geradezu abenteuerlich wird es im letzten Filmdrittel, in dem das Leben der suizidgefährdeten Anne Walter (Nadja Bobyleva, Borowski in der Unterwelt) am seidenen Faden hängt und Sänger – wie könnte es anders sein – einen erstklassigen Job an der Front macht. Der Erfolg gibt ihr eben Recht. 

Ehe ihre Ermittlungen im Internat, die in ein reizvolles Versteckspiel hätten münden können, so richtig an Fahrt gewinnen, sind sie aber schon wieder vorbei: Mit dem von Jürgen Tarrach (Gestern war kein Tag) fast karikaturesk gespielten Intensivspanner Karl Lichti ist ein Hauptverdächtiger für den Mord schnell ausgemacht, weil er in Bedrängnis mehrere Kurzschlussreaktionen begeht – von seiner nicht minder überzeichneten Rechtsanwältin, einem nervtötenden Klischee auf zwei Beinen, aber mühelos rausgeboxt wird. Als viel zu verdächtiger Kleinkrimineller – so ist das nun mal im Tatort – scheidet er als Mörder ohnehin aus.

Momente wie diese sind zum Haareraufen und liegen weit unter dem meist hohen Niveau  des Hessischen Rundfunks (man denke an den packenden Vorvorgänger Frauenmorde oder spätere Highlights wie Weil sie böse sind), aber im 564. Tatort sind sie eher die Regel als die Ausnahme. Andere, weniger stereotype Figuren bleiben in ihrem Handeln rätselhaft – so etwa die Lehrerin Michaela Metzner (Barbara Philipp, ab 2010 regelmäßig als Magda Wächter im Tatort aus Wiesbaden zu sehen), die Sänger erst das Feld überlässt und später ohne Not den Schwanz einzieht.

Auch die privaten Nebenkriegsschauplätze sind zwar für die am Main ohnehin relativ intensive Charakterzeichnung der Hauptfiguren ein Gewinn, für die Spannung und Realitätsnähe aber nicht: Weil Dellwo keine Wohnung mehr hat (und pausenlos telefonieren muss), quartiert er sich bei Sänger ein – und man kann die Uhr danach stellen, dass sich das im entscheidenden Moment noch auszahlt. 

Als klassischer Whodunit zum Miträtseln funktioniert Janus unter Regie von Klaus Gietinger (Unschuldig), der zum letzten Mal einen Tatort inszeniert, durchaus passabel, aber als Psychogramm scheitert der Film an seinen eigenen Ansprüchen völlig: Mit dem undurchsichtigen Lehrer Felix Klär (Roman Knizka, Das Phantom) gibt es noch eine weitere Figur, deren Psyche wir uns spät, aber dafür sehr intensiv nähern dürfen. Und spätestens hier wird überdeutlich: Man hätte besser einen echten Psychologen in die Produktion dieser missglückten Tatort-Folge einbeziehen sollen  – denn angesichts der haarsträubenden Küchenpsychologie und Plattitüden an allen Ecken und Enden retten die wenigen guten One-Liner am Ende nur wenig.


DELLWO:
Kolumbus hat Amerika auch nicht gesucht und trotzdem gefunden.

Bewertung: 3/10

Hundeleben

Folge: 563 | 12. April 2004 | Sender: WDR | Regie: Manfred Stelzer
Bild: WDR/Uwe Stratmann
So war der Tatort:

Sehr gut gealtert.

Denn auch Jahrzehnte nach seiner Erstausstrahlung hat dieser Kölner Tatort nichts, aber auch gar nichts von seiner hohen Relevanz eingebüßt: So wie der Ludwigshafener Tatort Schöner sterben, der ein Jahr zuvor ausgestrahlt wurde, spielt der clever betitelte Tatort Hundeleben über weite Strecken in einem Altenheim – aber anders als der harmlose Fadenkreuzkrimi mit Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) machen die Filmemacher die Missstände im deutschen Pflegesystem auch gnadenlos zum Thema.

Regisseur Manfred Stelzer (Der doppelte Lott) und Drehbuchautorin Nina Hoger, die sich in den Jahren davor und danach als erfolgreiche TV-Darstellerin einen Namen machte, legen den Finger in die Wunde der Gesellschaft und arbeiten schonungslos heraus, was es heißt, im Jahr 2004 auf der letzten Lebensstation für alte, demente und bisweilen sehr aufmüpfige Senioren zu arbeiten. 40 Mittagessen in 20 Minuten, Arsch abwischen für 5 Euro die Stunde, statt eines Dankeschöns pausenlos Widerworte: Das ist der Alltag von Tatjana Riegelsberger (Anneke Kim Sarnau, Die Heilige), die sich im Altenheim "Abendrot" abrackert und kurz vor dem Nervenzusammenbruch steht.

Die ebenso überlastete wie unterbezahlte Pflegerin ist der Dreh- und Angelpunkt des Whodunits, in dem die Kölner Hauptkommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) einen Mord aufklären müssen: Vor den Toren des Heims kommt die Ärztin Dr. Rose Lang (Kerstin Thielemann, Des Teufels langer Atem) zu Tode, die allein gelebt hat – auch wenn Ballauf das bei der Begehung ihrer Wohnung nicht wahrhaben will. Denn wer attraktiv ist, kann in Ballaufs Gedankenwelt kein glückliches Single-Leben führen.


BALLAUF:
Weißt du, was ich merkwürdig finde? Hier gibt's überhaupt keinen Hinweis auf 'ne Liebesbeziehung. Keine Spur von 'nem Mann. Ich mein: Frau Dr. Lang ist doch ne attraktive Frau gewesen. Die muss doch 'ne Beziehung gehabt haben.

SCHENK:
Du hast ja auch keine. Außer zu mir natürlich.


Während Ballauf hier negativ durch aus der Zeit gefallene Rollenvorstellungen auffällt, hat Schenk in diesem Tatort gleich zweierlei Sorgen: Das ist zum einen seine Großmutter Margot (Helga Göring, Schlaf, Kindlein, schlaf), die er zufällig noch vor dem Mord in dasselbe Altenheim gesteckt hat, vor dem kurz darauf die Leiche liegt. Und da ist "Luxemburg", der Hund der Toten, den er nicht im Tierheim verkümmern lassen, sondern mit zu sich nach Hause nehmen will. Sehr zum Ärger seiner Frau, die ihn direkt wieder rausschmeißt und die das Publikum auch in dieser Tatort-Folge nicht zu Gesicht bekommt.

Diese Drehbuchmanöver sind zugleich die größten Schwächen des ansonsten so hervorragend gelungenen und mit einigen starken One-Linern gespickten Krimis: Schenks Oma im Altenheim zu platzieren, eröffnet zwar erzählerische Möglichkeiten, weil vieles hinter dem Rücken der Kommissare stattfindet, aber es wirkt auch verdammt konstruiert. Die zahlreichen Luxemburg-Szenen hingegen, die Ballauf den Nerv rauben und Schenk Sympathiepunkte bei Tierfreunden einbringen, fallen in ihrer Tonalität eher in die Kategorie Vorabend.

Ansonsten bringt der 563. Tatort aber fast alles mit, was einen guten (Kölner) Tatort ausmacht: Neben einer kultverdächtigen Handballsequenz, in der Freddy Schenk im BVB-Trikot das Tor hütet, sind da auch die starken Figuren und Darsteller, ein kniffliger Fall mit überraschender Auflösung und ein überzeugend filetiertes, gesellschaftliches Reizthema, das durch Schenks renitente Oma und die Überlastung von Assistentin Franziska Lüttgenjohann (Tessa Mittelstaedt) in den Erfahrungen der Ermittler gespiegelt wird.

Der späteren Rostocker Polizeiruf-110-Kommissarin Anneke Kim Sarnau bietet das reichlich Spielraum zur Entfaltung – ob man ihrer Figur auch noch die Ehekrise mit dem ebenfalls als Pfleger tätigen Peter Riegelsberger (Frank Köbe, Das Nest) andichten musste, darf allerdings bezweifelt werden. Allein der unerfüllte, pausenlos thematisierte Kinderwunsch der beiden hätte Stoff für einen eigenen Tatort geboten – so wirkt die Geschichte doch etwas überfrachtet. Richten die Filmemacher den Blick hingegen ins Altenheim, entfaltet das Krimidrama seine Wucht und lässt uns trotz der kitschigen Schlusspointe mit keinem guten Gefühl zurück.

In den Jahren danach schlagen etwa der erstklassige Bremer Tatort Im toten Winkel, der sich der häuslichen Pflege widmet, oder der grandiose Stuttgarter Tatort Anne und der Tod, der eine verzweifelte Altenpflegerin in den Fokus rückt, thematisch in ähnliche Kerben – und man könnte fast meinen, in der Zeit dazwischen hätte sich mit Blick auf den Pflegenotstand in Deutschland gar nichts verändert. Wohl denen, die Menschen haben, die sich kümmern.


BALLAUF:
Wenn ich mich nicht mehr bewegen kann oder dement bin, dann gibst du mir eben die Spritze.

SCHENK:
Und wenn ich auch dement bin?

BALLAUF:
Dann haben wir'n Problem.


Bewertung: 7/10

Abschaum

Folge: 562 | 4. April 2004 | Sender: Radio Bremen | Regie: Thorsten Näter
Bild: Radio Bremen/Jörg Landsberg
So war der Tatort:

Höllisch. 

Die Leiche eines zwölfjährigen Mädchens, das von einem Hochhaus in den Tod gesprungen ist, weist eindeutige Spuren sexuellen Missbrauchs auf. Außerdem hatte das Kind eine rätselhafte Tätowierung auf der Hand. 

Die Bremer Hauptkommissare Inga Lürsen (Sabine Postel) und Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) sind bestürzt: Die Eltern des Mädchens, Bodo (Michael Lott, Im Abseits) und Sigrid Meinfeld (Martina Schiesser, Verlorene Töchter), geben sich wortkarg und ausflüchtig - und damit hochverdächtig. So rücken auch die ebenfalls auffälligen jüngeren Geschwister des toten Mädchens, Svenja (Luisa Sappelt) und Björn Meinfeld (Philip Stölken), in den Fokus der Ermittlungen, doch Kinderarzt und Lehrerin wiegeln ab: keine Auffälligkeiten und keine belastbaren Indizien, um schnell zu handeln. 

Zum Glück gibt es in der Plattenbausiedlung, in der die Familie lebt, noch ein Wohnheim für Menschen mit Behinderung, in dem Lürsens Tochter Helen (Camilla Renschke) als Betreuerin aushilft: Das Heim fungiert zum einen als Blitzableiter für die besorgten Bürger aus der Nachbarschaft und ist zum anderen der heimliche Rückzugsort für Svenja. Bald hat der Mob einen Schuldigen auserkoren: den vermeintlich stummen Ex-Soldaten Harald Markwart (Hans-Uwe Bauer, Heimspiel). Unterschicht gegen Abschaum

Das Umfeld der Familie hingegen scheint bewusst zu schweigen, und so beschleicht die Ermittler ein ungutes Gefühl: Haben sie es mit einem Netzwerk zu tun? 

Während Lürsen ungeduldig wird und sich im Zorn dazu hinreißen lässt, den süffisanten Oberstaatsanwalt Mertens (Christoph Bantzer) am Schlawittchen zu packen, sucht der besonnenere Stedefreund nach der Bedeutung des kryptischen Zeichens. Von der stark verängstigten Bibliothekarin Karin Melzer (grandios: die 2009 verstorbene Monica Bleibtreu, Der Passagier) erfährt er ungeheuerliche Details über Netzwerke von Pädophilen, die sich als satanistische Zirkel tarnen und Verbrechen jenseits der Vorstellungskraft verüben. 

Ritueller Missbrauch und Menschenopfer mitten in Bremen – zu bizarr, um wahr zu sein?


MELZER: 
Das sind Sadisten. Die wollen verletzen. Leute mit Macht, Geld und genügend Einfluss, um sicherzustellen, dass nichts von dem, was sie tun, an die Öffentlichkeit dringt.


Abschaum ist bis heute der beste Tatort aus Bremen geblieben, denn er zeigt Missbrauch als machtvolles System, das auf dem erzwungenen Schweigen der Opfer fußt: Die Taten der Satanisten sind so grausam, dass den Opfern niemand glaubt. Während die anderen Figuren in quälender Sprachlosigkeit verharren, geraten die Ermittler immer stärker unter Druck. 

Trotz der brisanten Thematik tappt Regisseur und Drehbuchautor Thorsten Näter (Kalte Wut) in kein Fettnäpfchen und keine Klischeefalle. Die knallharten Gewaltszenen deutet er nur auf Zeichnungen oder in verzerrten Flashbacks der jungen Opfer an. 

Reduzierte Dialoge und Gesten lassen viel Raum für die Entfaltung der bedrohlichen Atmosphäre, in der auch die Kinder anmuten wie Untote: bleich, ohne Mimik, stumm – und wenn der wütende Mob mit aller Macht  die Behinderteneinrichtung stürmen will, kommt man sich fast vor wie in einem Zombiefilm

Mutti Lürsen bemüht sich derweil redlich um eine Beziehung zu der traumatisierten Svenja, die in einem anderen Universum festzustecken scheint. Mit großer schauspielerischer Leistung lässt die hochtalentierte Jungdarstellerin Luisa Sappelt allein mit schnellem Atem und starrem Blick das Ausmaß der grauenvollen Situation erahnen – es sind Szenen zum Wegsehen. Das Wiederfinden der Sprache wird schließlich zur Zerreißprobe im 562. Tatort: Als Melzer sich passenderweise mit Worten von Paul Celan verabschiedet, nimmt die Handlung Fahrt auf. 

Abschaum, dem die Dokumentationen Höllenleben von Liz Wieskerstrauch als Vorlage dienten, bietet einen kinoreifen Einblick in ein bis dahin in den Medien kaum verhandeltes Thema, wenngleich der Showdown mit Selbstjustiz und 14 Toten einigen zu viel war: Neben CSU-Politiker Peter Gauweiler ("Skandal") monierten 2004 auch Polizeiruf 110-Kollege Jaecki Schwarz ("grauslich und nicht notwendig") und Tatort-Ermittler Jan Josef Liefers ("blutrünstiges Zeug") den blutigen Ausgang des Krimis und entfachten so eine Debatte über Altersfreigaben und Gewaltdarstellungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen

Die stark verfremdeten Schlussszenen wirken emotional jedoch kaum so belastend wie der Missbrauch. Anerkennung für dessen realistische Darstellung gab es von Sektenbeauftragten und Betroffenen. Für den Zuschauer ist dieser Tatort nicht leicht zu ertragen, und er ist trotzdem – oder gerade deswegen – ein Meilenstein in der Geschichte der Krimireihe. 

Zurecht zeigte sich auch Hans-Dieter Heimendahl, der damalige Programmdirektor von Radio Bremen, von der Kritik unbeeindruckt: Man habe "nicht nur einen spannenden Krimi produziert, sondern ein gesellschaftlich wichtiges Thema angesprochen." Word.

Bewertung: 10/10