Treibjagd

Folge: 1072 | 18. November 2018 | Sender: NDR | Regie: Samira Radsi
Bild: NDR/Christine Schroeder
So war der Tatort:

Beunruhigend.

Denn die Drehbuchautoren Benjamin Hessler (Spieglein, Spieglein) und Florian Öller (Zeit der Frösche) legen den Finger auf den Puls der Zeit und entspinnen in Treibjagd ein Szenario, das im Hamburg von heute schon morgen Realität sein könnte: Eine Bürgerwehr bläst in Neugraben zur Jagd auf eine osteuropäische Einbrecherbande – und gleichzeitig auch zum Angriff auf die Bundespolizisten Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) und Julia Grosz (Franziska Weisz).

Die geraten schnell zwischen die Fronten: Nachdem der junge Einbrecher Kolya Daskalow (Tilman Pörzgen) auf frischer Tat ertappt und vom alleinstehenden Dieter Kranzbühler (Jörg Pose, Zurück ins Licht) in dessen Wohnzimmer erschossen wird, suchen die Kommissare fieberhaft nach dessen Freundin und Komplizin Maja Kristeva (Michelle Barthel, Hinkebein), die zugleich die wichtigste Tatzeugin ist.

Auf die haben es aber auch der besorgte Bürger Siggi Reimers (Sascha Nathan, wir kennen ihn gut aus dem Frankfurter Tatort) und Kranzbühlers Bruder Bernd (Andreas Lust, Mia san jetz da wo's weh tut) abgesehen – und weil Ermittlungserfolge ausbleiben und der aufbrausende Falke mit der selbsternannten Nachbarschaftswache aneinandergerät, landet seine Adresse prompt in einem einschlägig bekannten Internetforum.

Wie gefährlich es werden kann, wenn aus digitaler Hetze analoger Ernst wird, bekommt dann Falkes Sohn Torben (Levin Liam) schmerzhaft zu spüren – der offline lebende Großstadtbulle hingegen braucht in diesem Tatort (viel zu) lang, um zu begreifen, wie schnell eine Situation heutzutage durch gezielt eingesetzte Hashtags und die virale Eskalationsspirale außer Kontrolle geraten kann.


FALKE:
Ich hab doch gesagt, Internet ist nur was für Spacken!


Unterstützt vom stimmungsvollen, mitunter aber etwas aufdringlichen Soundtrack des Musikerduos Dürbeck & Dohmen inszeniert Regisseurin Samira Radsi (Schlangengrube) einen spannenden Tatort, wenngleich die Geschichte nicht ganz neu ist: Im Januar 2017 trafen bereits die Kölner Kollegen Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) in Wacht am Rhein auf eine militante Bürgerwehr, die in ihrem "Veedel" Jagd auf kriminelle Ausländer machte und das Gesetz zum Leidwesen eines ebenso unschuldigen wie vorbildlich integrierten Migranten selbst in die Hände nahm.

Davon kann hier zwar keine Rede sein, denn das Opfer hat als aufmüpfiger Serieneinbrecher einiges auf dem Kerbholz – dass ihn Kranzbühler einleitend mit der Waffe richtet und seine Komplizin mit einem Streifschuss an der Hüfte verwundet, fällt dennoch in den Bereich Selbstjustiz und geht nicht mehr als Notwehr durch.

Anders als im genannten Beitrag aus Köln werden die TV-Zuschauer diesmal aber Zeuge der Tat samt anschließender Tatort-Manipulation, so dass Treibjagd als Whodunit nicht funktioniert: Die 1072. Ausgabe der Krimireihe ist kein Krimi, sondern ein waschechter Thriller. Der guten Unterhaltung tut das keinen Abbruch, denn statt von der Suche nach der Auflösung lebt der Tatort von der Suche nach Einbrecherin Maja und deren Odyssee durch die umliegenden Wälder, in der Falke und Grosz über weite Strecken allein die Nadel im Heuhaufen suchen.

Heimlicher Star des Films ist die glänzend aufgelegte Michelle Barthel (Nacktszene inklusive), die schon 2011 im Hamburger Tatort Leben gegen Leben groß aufspielte: Der um Freund und Gesundheit gebrachten Täterin mit Rachegelüsten drücken wir bei ihrer Flucht vor Polizei und Bürgerwehr bis zum dramatischen Showdown fast ein wenig die Daumen.

Kleinere Holprigkeiten im Drehbuch müssen wir allerdings verschmerzen: Ihre mit dem Konterfei des Partners ausgestatteten Smartphones lassen die Einbrecher praktischerweise entsperrt im Fluchtauto zurück, der Wald bietet besten Handyempfang und das zarte Bellen der schlafmützigen Wachhunde von Hundeschulbesitzerin Heike (Angelika Richter) ringt unerwünschten Eindringlingen kaum ein müdes Lächeln ab.

Auch die gewaltbereiten Nachbarschaftswächter wirken etwas überzeichnet, doch begehen die Filmemacher zumindest nicht den Fehler, alle Hetzer plump über einen Kamm zu scheren: Die Gruppendynamik unter den besorgten Bürgern beleuchten sie wohltuend differenziert und wissen dabei zwischen aggressivem Anführer, gehorsamem Mitläufer und reumütigem Täter zu unterscheiden.

Bewertung: 7/10

Der Mann, der lügt

Folge: 1071 | 4. November 2018 | Sender: SWR | Regie: Martin Eigler
Bild: SWR/Alexander Kluge
So war der Tatort:

Perspektivisch außergewöhnlich.

Denn Der Mann, der lügt, ist im gleichnamigen Stuttgarter Tatort auch der Mann, dem wir eineinhalb Stunden lang über die Schulter blicken: Regisseur und Drehbuchautor Martin Eigler, der die Geschichte zum Film wie schon beim Dortmunder Meilenstein Sturm mit Sönke Lars Neuwöhner schrieb, wechselt die Erzählperspektive und schildert das Geschehen nicht wie üblich aus der Sicht der Hauptkommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare), sondern aus der Sicht des Hauptverdächtigen.

Nach dem brutalen Mord an dem windigen Anlageberater Uwe Berger fällt der Verdacht auf Jakob Gregorowicz (Manuel Rubey, Kinderwunsch), der am Vorabend einen Termin mit Berger hatte – und beginnend mit der Eröffnungssequenz weichen wir Gregorowicz in diesem spannenden Krimidrama nicht mehr von der Seite. Vielmehr folgen wir ihm nach Hause zu Ehefrau Katharina (Britta Hammelstein, Fegefeuer) und Tochter Jule (Livia Sophie Magin), zu seinem Zahnarzt Dr. Radu Voica (Daniel Wagner, Level X) und sogar auf den Tennisplatz – und werden im Gegensatz zu den Ermittlern auch früh zum Zeugen seines Doppellebens, von dem seine Familie ebenso wenig ahnt wie sein Anwalt und Schwager Moritz Ullmann (Hans Löw, Es lebe der Tod).

Der Mann, der lügt, hat sich über die Jahre ein gewaltiges Konstrukt aus Lügen aufgebaut – und es ist an Lannert und Bootz, es Schritt für Schritt zum Einsturz zu bringen und sich bei den entnervenden Befragungen nicht entmutigen zu lassen (mehr über die fordernden Dreharbeiten verriet uns Felix Klare im Interview).


GREGOROWICZ:
Das habe ich ja schon gesagt.

BOOTZ:
Ja, das haben Sie dann irgendwann, nach Stunden, beliebt zu sagen. Jetzt sind wir aber bei einem anderen Punkt! Und wenn Sie den letztendlich auch erst in drei oder vier Stunden zugeben, verlieren wir wieder und wieder wertvolle Zeit. Wie seit Tagen schon – einzig und allein, weil Sie lügen!


Die kammerspielartige Sequenz im Stuttgarter Verhörraum erinnert an den gelungenen Berliner Tatort Machtlos, in dem sich die engagierten Kommissare eine halbe Ewigkeit die Zähne an ihrem Gegenüber ausbissen – aber ist Gregorowicz wirklich der Mörder?

Anders als in einem klassischen Whodunit stellt sich im 1071. Tatort weniger die Frage, wer die Tat begangen hat, sondern ob die Tat von ihm begangen wurde. Der starke Fokus auf den charismatischen Verdächtigen ist für die Krimireihe aber gar nicht so ungewöhnlich, wie man meinen sollte: Ähnliche Ansätze gab es zum Beispiel in Haie vor Helgoland, Das Böse oder Der Teufel vom Berg.

Die Konsequenz, mit der die Filmemacher den Perspektivwechsel durchziehen, sucht aber ihresgleichen: Lannert und Bootz reden bei ihrem zehnjährigen Tatort-Jubiläum keinen einzigen (!) Satz miteinander. Die Dialogzeilen der Kommissare beschränken sich auf die Befragung des mutmaßlichen Mörders – damit sind auch Staatsanwältin Emilia Alvarez (Carolina Vera) und die fast wortlose Nika Banovic (Mimi Fiedler), die zum letzten Mal im Tatort aus dem Ländle mit von der Partie ist, nur bessere Statisten.

Auch das TV-Publikum nimmt eine ungewohnte Rolle ein: Es weiß zwar mehr (und zugleich oft weniger) als die Kommissare, deren Kamerazeit sich in der ersten Filmhälfte auf wenige Minuten beschränkt, aber auch nicht so viel wie der undurchsichtige Mordverdächtige selbst, der bei seiner Politik der kleinen Häppchen stets nur das gesteht, was man ihm nachweisen kann. Das erhöht den Reiz bei der Suche nach der Auflösung: Statt die Täterfrage zu früh offenzulegen, installieren die Filmemacher vielsagende Flashbacks und verschwommen illustrierte Tagträume, die wir nicht wirklich durchschauen.

Dass der 22. Fall von Lannert und Bootz trotz kleinerer Spannungstiefs im Mittelteil zu den bis dato besten Tatort-Folgen aus Stuttgart zählt, liegt aber auch an den tollen schauspielerischen Leistungen von Manuel Rubey und seiner Leinwandpartnerin Britta Hammelstein: Während Rubey seine von Finanznot, Kripo und betrogener Gattin getriebene Figur facettenreich mit Leben füllt, glänzt Hammelstein beim emotionalen Streit im Hause Gregorowicz, in dem mehr im Argen liegt, als man anfangs für möglich halten sollte.

Etwas kurz kommen mit Frank Schacht (Robert Schupp, Zeit der Frösche), Detlef Schönfliess (Marc Fischer) und Armin Gross (Holger Daemgen, Wahre Liebe) zwar die Freunde der Familie, doch ist auch das dem strikten Fokus auf die Schlüsselfigur geschuldet: Ob Der Mann, der lügt, auch der Mann ist, der mordet, bleibt bis zum Schluss offen.

Ob es die erklärenden Texttafeln da noch gebraucht hätte, darf jeder Zuschauer für sich selbst entscheiden.

Bewertung: 8/10