Borowski und das Glück der Anderen

Folge: 1086 | 3. März 2019 | Sender: NDR | Regie: Andreas Kleinert
Bild: NDR/Christine Schroeder
So war der Tatort:

Todunglücklich.

Denn Drehbuchautor Sascha Arango (Niedere Instinkte) widmet sich in Borowski und das Glück der Anderen dem Thema Sozialneid und macht in seiner Geschichte eine Frau zur Mörderin, die mit ihrem Leben neuerdings nicht mehr glücklich ist: Supermarktkassiererin Peggy Stresemann (Katrin Wichmann) schaut abends im Fernsehen die Ziehung der Lottozahlen und beobachtet dabei im Haus auf der anderen Straßenseite, wie ihre wohlhabenden Nachbarn Victoria (Sarah Hostettler) und Thomas Dell (Volkram Zschiesche, Freddy tanzt) mit einem Schein in der Hand in Jubel ausbrechen.

Als die Besserverdienerin von gegenüber am nächsten Tag Schampus an Peggy Kasse einkauft, ist der Fall klar: Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen! Doch anders als ihr genügsamer Ehemann Micha (Aljoscha Stadelmann, Der Fall Holdt) will Peggy das nicht länger tatenlos hinnehmen: Sie sucht im Haus der Dells nach dem Lottoschein, der noch nicht eingelöst wurde – und als sie von Thomas Dell auf frischer Tat dabei ertappt wird, streckt die Einbrecherin ihn kurzerhand mit sieben Schüssen nieder und lenkt den Verdacht auf seine Ehefrau.

Wie so oft bei Arango, der in den vergangenen Jahren unter anderem die Kieler Tatort-Highlights Borowski und das Mädchen im Moor oder Borowski und der Engel konzipierte, weiß der Zuschauer es aber besser und darf im Anschluss dabei mitfiebern, ob es den Hauptkommissaren Klaus Borowski (Axel Milberg) und Mila Sahin (Almila Bagriacik) wohl gelingt, der pfiffigen Peggy das Handwerk zu legen. So ganz scheint deren Geschichte nämlich nicht zu stimmen – das offenbart sich Borowski schon beim Besuch in der Gerichtsmedizin, bei dem er mit der verdutzten Dr. Kroll (Anja Antonowicz) den möglichen Tathergang nachstellt und im Rahmen einer kurzen Impro-Einlage die typischen kleinen Konflikte des Ehealltags als Mordmotiv durchexerziert.


BOROWSKI:
Warum hast du auf mich geschossen, Liebling?

KROLL:
Ich hasse dich! Weil du nie die Zahnpastatube zumachst!


Der Verzicht auf das Whodunit-Prinzip, das bereits in den Vorwochen im tollen Franken-Tatort Ein Tag wie jeder andere und im Wiesbadener Meisterwerk Murot und das Murmeltier ausgehebelt wurde, ist typisch für Arangos Drehbücher, doch hat das dem hohen Unterhaltungswert seiner Krimis nie Abbruch getan.

Vielmehr sind es nicht zuletzt brüllend komische Szenen wie die genannte, die Borowski und das Glück der Anderen unter routinierter Regie von Andreas Kleinert (Freies Land) zu einer so ungemein kurzweiligen, wenn auch mit tragischem Unterton versehenen Krimikomödie machen: Der 1086. Tatort ist überraschend, witzig und schockierend zugleich. Neben den großartigen Dialogen bietet der Film viel schwarzen Humor, aberwitzige Situationskomik und viele pfiffige Wendungen – das macht ihn so originell und (fast) zu keinem Zeitpunkt ausrechenbar.

Nur in der Anfangsphase wirkt der zweite Einsatz von Borowski und Sahin, die beim Boxtraining ein dickes Veilchen davongetragen hat und sich daher den löchernden Fragen von Kripo-Chef Roland Schladitz (Thomas Kügel) stellen muss, wie eine Kopie des ebenfalls aus Arangos Feder stammenden Klassikers Borowski und die Frau am Fenster: Die Ausgangslage beider Tatort-Folgen gestaltet sich auffallend ähnlich, doch löst sich Borowski und das Glück der Anderen schnell von der Geschichte des vielgelobten Vorgängers und setzt eigene Akzente.

Auch das Spiel mit den Klischees meistern die Filmemacher mit Bravour – etwa bei Sahins getürkter Wohnungsbesichtigung im Hause junger Eltern, bei Peggys Shopping in einer Edelboutique oder im Hinblick auf ihre Kollegin Ilona Schmidt (Stefanie Reinsperger), die für die größte von unzähligen gelungenen Überraschungen in diesem Tatort sorgen darf.

Dabei verliert Arango den Blick für das Menschliche und die Leitmotive seiner Geschichte – das titelgebende Glück anderer Bürger, den daraus resultierenden Sozialneid und nicht zuletzt auch den Faktor Zufall – aber nie aus dem Blick: Wenn Borowski und Sahin einleitend einen international gesuchten Dealer nur deshalb aufspüren, weil sie sich in der Tür geirrt haben, illustriert das drastisch, wie nah Glück und Pech im Leben – oder in diesem Fall Leben und Tod – beieinander liegen können.

Auch die Schauspieler überzeugen auf ganzer Linie: Während der fantastischen Katrin Wichmann (Amour fou) in ihrer schrillen Schlüsselrolle die ganze Bandbreite an Emotionen abverlangt wird, mimt Sarah Hostettler (Wofür es sich zu leben lohnt) als eitle Witwe mit Herz den wunderbar unterkühlten Kontrapunkt.

Bewertung: 8/10

Rezension der vorherigen Folge: Kritik zum Tatort "Ein Tag wie jeder andere"

1 Kommentar:

  1. Ein großartiger Tatort voller Überraschungen! Die zwei Frauen sind extrem interessante Charaktere und erscheinen trotz der extremen Charakterzeichnung nie überzeichnet. Man kann sich durchaus vorstellen, so jemandem mal auf der Straße zu begegnen. Dies liegt auch an den herausragenden Leistungen beider Darstellerinnen.
    Der Film beginnt schon mit einer der skurrilsten, komischsten Szenen und es geht auch immer so weiter. Die Leiche lässt immerhin mehr als 20 Minuten auf sich warten. Das sorgt dafür, dass der Zuschauer das Tatmotiv verstehen kann, weil die Gefühle der Mörderin intelligent offengelegt werden.
    Ich liebe vielschichtige Filme, in denen zu mehrenen Themen, nicht zu offensichtlich, Stellung bezogen wird oder die mehrere Interpretationsmöglichkeiten offenlassen. Dies ist etwa in "Der tiefe Schlaf" extrem gelungen. Aber auch hier wird nicht nur Sozialneid mit möglichen, wenn auch extremen Folgen, betrachtet, sondern auch die Ursachen und wie man so etwas verhindern kann. Zurecht beklagt sich Peggy darüber, dass sie von vielen Kunden wie Luft behandelt wird, obwohl sie einen wichtigen Job erledigt. Das entspricht leider oft der Realität: Und so werden wir dazu aufgerufen, Supermarktkassierern, Busfahrern etc. den vollsten Respekt zu erweisen. Aber auch ganz allgemein ist es ungemein wichtig, Menschen das Gefühl zu geben, dass sie wertvoll sind.
    Gleichzeitig geht es aber natürlich auch darum, wo das Glück herkommt: Doch nicht etwa von 14,5 Millionen Euro? Von teuren Klamotten? Von der Liebe des Lebens?
    Und es geht auch darum, dass nicht immer alles ist wie es scheint, dass man manchmal Dinge sieht, weil man sie sehen will.
    Am Ende dann die große Wendung, die zeigt, dass man alles verlieren wird, wenn man sich nicht mit dem zufriedengibt, das man hat.
    Unterm Strich ein herausragender Film, der jedoch kleine Macken hat: Es scheint zum Beispiel etwas unwahrscheinlich, dass Peggy immer wieder im Haus eindringen kann, ohne Einbruchspuren zu hinterlassen oder von den Nachbarn gesehen zu werden. Außerdem wird doch der nicht abgeholte Jackpot nicht tagelang auf der Titelseite aller Tageszeitungen stehen. Auch bin ich mir nicht ganz sicher, ob man nicht auch durch eine verspiegelte Fensterscheibe hindurchsehen könnte, wenn das Licht im Inneren eingeschaltet ist. Zudem schleichen sich ab und zu kleine Längen ein, die aber schon bald wieder von einer neuen pfiffigen Wendung oder hoch skurrilen Szene eingefangen werden.
    Macht aber nichts: Der Film ist eine echte Perle, die als groteske Tragi-Komödie mit viel Tiefsinn punkten kann. Aufgrund ihres Tiefgangs übertrifft sie meiner Meinung nach um ein Haar den großartigen Stuttgarter Tatort "Stau". Damit erhält dieser Tatort von mir 9/10 Punkte.

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