Das Nest

Folge: 1092 | 28. April 2019 | Sender: MDR | Regie: Alex Eslam
Bild: MDR/Wiedemann & Berg/Daniela Incoronato
So war der Tatort:

Sielandlos.

Denn im Dresdner Vorgänger Wer jetzt allein ist hatte sich Hauptkommissarin Henni Sieland (Alwara Höfels) aus der Krimireihe verabschiedet – was hinter den Kulissen nicht ganz geräuschlos ablief, weil die Vorstellungen des MDR und der Schauspielerin Alwara Höfels im Hinblick auf den Sachsen-Tatort offenbar ziemlich auseinander gingen.

In Das Nest wird Sielands Nachfolgerin Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) gleich richtig gefordert: Nachdem die junge Autofahrerin Maja Peters (Judith Neumann) in einem abgelegenen Waldhotel einen eiskalten Serienmörder auf frischer Tat ertappt, stellen Winkler, Hauptkommissarin Karin Gorniak (Karin Hanczewski) und Kripochef Peter Michael Schnabel (Martin Brambach) ihm vor Ort eine Falle. Der Plan schlägt allerdings fehl und Gorniak wird lebensgefährlich verletzt, weil Winkler die Nerven versagen.

Ein erster Konflikt zwischen dem neu formierten Ermittlerduo ist damit installiert – aber auch schnell wieder aus der Welt geräumt, weil Gorniak nach ihrer Genesung und Versetzung in die Asservatenkammer unterfordert ist und Winkler ohne die Hilfe ihrer intuitiver handelnden Kollegin nicht recht vorankommt.

Die beiden reduzieren den Kreis der Verdächtigen auf zwei Personen: den Chirurgen Dr. Christian Mertens (Benjamin Sadler, Das goldene Band), der mit seiner Frau Nadine (Anja Schneider, Freies Land) und seiner Tochter Nikki (Runa Greiner) ein beschauliches Familienleben führt, und den Krankenpfleger Bernd Haimann (Wolfgang Menardi, Die Heilige), der Mertens zum Verwechseln ähnlich sieht. Einer der beiden ist der Mörder – und zugleich einer der furchteinflößendsten Bösewichte der jüngeren Tatort-Geschichte.


MÖRDER:
Wissen Sie, wann man einen Menschen wirklich sieht? Sein wahres Gesicht? Kurz bevor er stirbt. Ihres hab' ich noch nicht gesehen.


Drehbuchautor Erol Yesilkaya (Ein Tag wie jeder andere) setzt auf eine zeitlich in etwa gleich gewichtete Kreuzung aus einem klassischem Whodunit und einem fiebrigen Howcatchem: Wer von den beiden erst fünf und später sechs Menschen auf dem Gewissen hat, klärt sich bereits nach einer Dreiviertelstunde.

Der Spannung tut das keinen Abbruch, ganz im Gegenteil: Regisseur Alex Eslam inszeniert einen wahnsinnig packenden und von Minute 1 an mitreißenden Psychothriller, der stellenweise sogar an einen waschechten Horrorfilm erinnert: Schon das einleitende Entdecken des Mörders und seine schaurig zur Schau gestellte Leichensammlung im nächtlichen Waldhotel liefert einige elektrisierende Gänsehautmomente.

Besonders gelungen ist auch die überraschende Auflösung der Täterfrage im Zuge eines clever arrangierten Aufeinandertreffens im Parkhaus – später verlangt dann ein Besuch des Killers bei Gorniaks Sohn Aaron (Alessandro Schuster) dem zart besaiteten Teil des Publikums starke Nerven ab. Keine Frage: Der stimmungsvoll vertonte 1092. Tatort ist der düsterste Sonntagskrimi seit Monaten, doch bergen die steile Spannungskurve, die wendungsreiche Jagd auf den Serienmörder und das dramatische Finale einen Wermutstropfen: Das Motiv des Täters bleibt fast komplett im Dunkeln.

Ein solcher Ansatz, wie er zum Beispiel auch im erstklassigen Frankfurter Krimidrama Herzversagen verfolgt wurde, ist durchaus legitim, doch wirkt das Ganze hier durch halbherzige Andeutungen sehr behauptet: "Ich wollte immer schon töten. Ich bin so geboren, das ist meine Natur", charakterisiert sich der Täter etwa in einer Schlüsselszene selbst. Das Profiling im Präsidium wird binnen Sekunden mit beschrifteten Fotos abgefrühstückt – in anderen Tatort-Städten gibt und gab es für solche Analysen gleich eine ganze Figur (zum Beispiel Fallanalytikerin Johanna Stern im Tatort aus Ludwigshafen oder Profilerin Christine Lerch im Tatort aus München).

Angemessen knapp umrissen wird hingegen Winklers schwieriges Verhältnis zu ihrem Vater Otto (Uwe Preuss, Level X), deren große Fußstapfen sie im Präsidium auszufüllen versucht – nur im Hinblick auf das ewige Zuschnappen eines Feuerzeugs als Leitmotiv wirkt die ansonsten sehr gelungene Einführung der neuen Kommissarin etwas überambitioniert.

Über ein paar Logiklöcher müssen wir ebenfalls hinwegsehen, was angesichts des hohen Unterhaltungswerts aber zu verschmerzen ist: Wie der Täter beispielsweise mühelos aus dem vom SEK umstellten Hotel flüchten kann, wird wohl das Geheimnis der Dresdner Mordkommission bleiben.

Bewertung: 8/10

Rezension der vorherigen Folge: Kritik zum Tatort "Wo ist nur mein Schatz geblieben?"

Wo ist nur mein Schatz geblieben?

Folge: 1091 | 22. April 2019 | Sender: Radio Bremen | Regie: Florian Baxmeyer
Bild: Radio Bremen/ARD Degeto/Christine Schroeder
So war der Tatort:

Grenzenlos – denn gleich zum Auftakt ihres letzten Falls gröhlt Hauptkommissarin Inga Lürsen (Sabine Postel) beim Fallschirmsprung mit ihrem langjährigen Partner Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) die zu diesem Tatort so wunderbar passenden Zeilen von Reinhard Mey.

Auch bei Radio Bremen hat man sich nach den fast 22 Dienstjahren der Kommissarin, die einst in Inflagranti ihr Debüt für die Krimreihe gab und danach viele Höhen und Tiefen durchlebte, wohl gedacht: Zum Ende lassen wir es nochmal richtig krachen und pfeifen auf die Grenzen, die sich die Krimireihe einmal selbst gesetzt hat (und die in den Monaten davor auch in anderen Tatort-Städten häufig gesprengt wurden).

Ganz so schräg wie der vieldiskutierte Vampir-Vorgänger Blut fällt Wo ist nur mein Schatz geblieben? zwar nicht aus, doch versucht sich Regisseur Florian Baxmeyer, der gemeinsam mit Michael Comtesse (Wir kriegen Euch alle) und Stefanie Veith (Nachtsicht) auch das Drehbuch zum Film schrieb, an einer eigenwilligen Mischung aus amerikanisch angehauchtem Actionthriller und bodenständigem Krimidrama mit düsterer Grundnote – eine mutige, zugleich aber auch anstrengende Mischung, die unterm Strich nicht recht funktionieren will.

Dabei wirkt der Fall anfangs weniger abgehoben als die fallschirmspringenden Kommissare: Eine Frauenleiche auf einer Baustelle führt Lürsen und Stedefreund zunächst in die Immobilienfirma von Vera Berlov (Violetta Schurawlow), die mit ihrem Kollegen Roger Stahl (Kostja Ullmann, Schwarzer Afghane) liiert ist und ein gemeinsames Kind hat – und später auch eine Leiche im Keller.


STAHL:
Da liegt ein scheiß Torso in deiner Kühltruhe.

BERLOV:
Na und? Ich hab' neue Schuhe. Wen juckt's?


Spätestens mit dem Besuch von Berlovs skrupellosem Bruder Adam (Daniel Wagner, Der Mann, der lügt) und der tschetschenischen Mafia nimmt Wo ist nur mein Schatz geblieben? Fahrt auf – doch die dynamische Inszenierung und der wummernde Soundtrack können die klischeebeladenen Figuren, die lahmen Plattitüden und nicht alle Mängel im Drehbuch kaschieren.

Da wären zunächst mal die durchgeknallten BKA-Ermittler Manfred Maller (Robert Hunger-Bühler, Wahre Lügen) und Wolfgang Kempf (Philipp Hochmair, Borowski und das Meer), die Lürsen und Stedefreund in die Parade grätschen – ein Handlungskniff, der im Tatort wahrlich nichts Neues ist, zugleich aber auch zwei Figuren, die fernab jeder Realität agieren. Stahl und Berlov wirken im Vergleich fast schon geerdet – das glückliche Pärchen kauft man den beiden aber zu keinem Zeitpunkt des Films ab.

Zum unfreiwilligen Running Gag entwickelt sich ihr Baby Kolja (Junis Koussan), das praktisch in jeder Sequenz von einem der beiden gewickelt, auf dem Arm getragen oder durch die Gegend gefahren wird – ganz gleich, ob gerade die schwer bewaffnete Mafiaverwandtschaft mit einem enthaupteten Torso hereingeschneit ist und die Babysitterin zu Tode erschreckt hat, die Kommissare in Berlovs Firma herumschnüffeln oder ein SEK in der Hofeinfahrt steht. Auch schauspielerisch liegt manches im Argen – einige Komparsen und Kleindarsteller agieren so steif und hölzern, dass man diese Szenen besser gleich ganz gestrichen hätte.

Die Antriebsfeder der 1091. Tatort-Folge ist im Übrigen weniger die Suche nach dem Mörder, sondern vielmehr die Tatsache, dass Stedefreund seine Kollegin sechs Jahre lang angeschwindelt hat: Kehrte der Bremer Kommissar im Tatort Er wird töten nach einem angeblichen Einsatz als Polizeiausbilder aus Afghanistan zurück, offenbart sich nun, dass Stedefreund einer ganz anderen Beschäftigung nachgegangen ist. Dabei hat man aber weniger das Gefühl, dass Radio Bremen diese Auflösung von langer Hand geplant hätte – vielmehr scheint das Ganze eine willkommene Gelegenheit zu sein, dem Kommissar nachträglich irgendein dunkles Geheimnis andichten zu können.

Deutlich unspektakulärer als die Aufarbeitung von Stedefreunds Sünden der Vergangenheit fällt das Wiedersehen mit BKA-Kollegin Linda Selb (Luise Wolfram) aus, die sich in Zurück ins Licht verabschiedet hatte und nun doch noch einmal ihre Hackerqualitäten unter Beweis stellt: Zum Abschluss wollte man in Bremen auf Kosten der Glaubwürdigkeit offenbar noch einmal alle vor der Kamera zusammenbringen und aufeinander loslassen. So verabschieden sich Lürsen und Stedefreund mit einem ebenso dramatischen wie kitschigen Schlussakkord – aber nicht mit einem überzeugenden Tatort.

Linda Selb wird im Übrigen ein weiteres Mal zurückkehren – und bleiben.

Bewertung: 3/10

Rezension der vorherigen Folge: Kritik zum Tatort "Inferno"

Inferno

Folge: 1090 | 14. April 2019 | Sender: WDR | Regie: Richard Huber
Bild: WDR/Thomas Kost
So war der Tatort:

Verstimmt.

Und das liegt nicht nur am anstrengenden Soundtrack von Dürbeck und Domen, der die nachdenklicheren Sequenzen dieses Krimidramas mit auffallend disharmonischen Tönen begleitet: Im Ruhrpott liegen die Nerven mal wieder blank, weil jeder der vier Kommissare sein Päckchen zu tragen hat und sich viele Reibungspunkte zwischen den Figuren ergeben.

Dabei geht in Inferno alles ganz harmlos und harmonisch los: Die Dortmunder Ermittler Peter Faber (Jörg Hartmann), Martina Bönisch (Anna Schudt), Jan Pawlak (Rick Okon) und Nora Dalay (Aylin Tezel) werden in die Ruhr-Emscher-Klinik gerufen, weil die Internistin Dr. Gisela Mohnheim in einem Ruheraum der Notaufnahme mit einer Plastiktüte über dem Kopf tot aufgefunden wurde. Mord oder Selbstmord?

Dem üblichen Leichenfund zum Auftakt folgen die Erkenntnisse von Gerichtsmedizinerin Greta Leitner (Sybille J. Schedwill) und die Befragungen im beruflichen wie privaten Umfeld des Mordopfers, ehe mit dem obligatorischen zweiten Toten nach einer guten Dreiviertelstunde die Karten neu gemischt werden.

Drehbuchautor Markus Busch (Borowski und das Fest des Nordens) und Regisseur Richard Huber (Die robuste Roswita) servieren dem Publikum eigentlich einen Whodunit der klassischen Sorte – wäre, ja wäre da nicht das dramatische Schlussdrittel des Films und der starke Fokus auf die Gefühlswelten der vier Kommissare, die nach außen hin zwar als Team auftreten, hinter verschlossenen Türen aber noch nie eines waren.


PAWLAK:
Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.

FABER:
Tja, das ist bei uns ja ganz anders.


Mit der tierlieben Krankenschwester Lexi Wolter (Lisa Jopt), dem labilen Pfleger Peter Norén (Niklas Kohrt) oder den vielbeschäftigten Medizinern Dr. Andrea Müller-Seibel (Doris Schretzmayer, Mein ist die Rache) und Dr. Lars Klinger (Ulrich Brandhoff, Level X) gibt es im Krankenhaus eine ganze Reihe an Augenzeugen und Tatverdächtigen – die mit Abstand interessanteste Figur in diesem Mikrokosmos aus kahlen Fluren, engen Büros und schlichten Krankenzimmern ist aber der undurchsichtige Stationsleiter Dr. Dr. Andreas Norstädter (Alex Brendemühl), der Fabers Geisteszustand schon nach wenigen Dialogzeilen durchschaut.

Das subtile Psychoduell zwischen dem irritierten Kommissar und seinem fachkundigen Kontrahenten ist der Fixpunkt dieses lange Zeit gemütlichen, aber in ein hochemotionales Finale mündenden Krimidramas, denn Norstädter gelingt etwas, was vorher noch keinem fremden "Seelenklempner" gelungen ist: Er dringt zur Ursache für Fabers Alpträume und damit zum Verlust seiner Familie und zur noch immer nicht beendeten Jagd auf Serienmörder Markus Graf (Florian Bartholomäi) durch, der in Auf ewig Dein gefasst wurde, in Tollwut aus dem Gefängnis entkam und in Monster ein letztes Mal zurückkehrt.

Das gestaltet sich eine gute Stunde lang unaufgeregt, aber reizvoll, ehe die Filmemacher auf der Zielgeraden über ihr Ziel hinausschießen und Inferno die Bodenhaftung verliert – dabei hatte der glaubwürdig erzählte und mit reichlich Kritik am überlasteten Pflegeapparat durchsetzte Kriminalfall bis dato auch den Kritikern der umstrittenen Tatort-Folgen aus Westfalen wenig Angriffsfläche geboten.

Von jetzt auf gleich ist das aber Makulatur, weil unterm Strich vor allem die Schlussviertelstunde in Erinnerung bleibt und die Auflösung der Täterfrage plötzlich zweitrangig ist: Faber lässt sich nach einem Medikamententrip zu einer halsbrecherischen Ego-Nummer hinreißen, die die Familienprobleme seines jüngeren Kollegen Pawlak oder die noch aus Zorn resultierenden Panikattacken seiner Kollegin Dalay nach allen Regeln der Kunst zur Nebensächlichkeit degradiert.

Hier zeigt sich einmal mehr, dass der Tatort aus Dortmund eine Miniserie innerhalb der Krimireihe geworden und der Star im Ruhrpott der grandios aufspielende Jörg Hartmann ist – und vielleicht kommt es nicht von ungefähr, dass Aylin Tezel ein paar Wochen vor der Erstausstrahlung dieser Tatort-Folge ihren Abschied für 2020 angekündigt hat. In der Zuschauergunst war ihre Figur spätestens seit dem Ausstieg von Stefan Konarske, der bis 2017 Nora Dalays Kollegen und Ex-Liebhaber Daniel Kossik spielte (letzter Auftritt im ebenfalls von Richard Huber inszenierten Meilenstein Sturm), ohnehin stark gesunken.

Bewertung: 7/10

Rezension der vorherigen Folge: Kritik zum Tatort "Bombengeschäft"