Hundstage

Folge: 973 | 31. Januar 2016 | Sender: WDR | Regie: Stephan Wagner
Bild: WDR/Wolfgang Ennenbach
So war der Tatort:

Verlustgeprägt.

Das Leitmotiv des achten Falls der Dortmunder Ermittler Peter Faber (Jörg Hartmann), Martina Bönisch (Anna Schudt), Daniel Kossik (Stefan Konarske) und Nora Dalay (Aylin Tezel) ist nämlich der Verlust eines Kindes: Während Faber in Hundstage immer wieder die Stimme seiner tödlich verunglückten Tochter hört, sucht Bönisch vergeblich Kontakt zu ihrem Sohn, der sich für ein Leben bei ihrem Ex-Mann entschieden hat. Zwischen Dalay und Kossik hingegen steht weiterhin das abgetriebene Kind, das in Auf ewig Dein zur Trennung führte.

Auch die Ermittlungen im Mordfall werden nicht nur von der Suche nach dem Täter, sondern auch vom Verlust eines Kindes vorangetrieben: 14 Jahre ist es her, dass Martina Bönisch den vermissten Sohn von Max (Ralf Drexler) und Eva Dehlens (Maren Eggert, Väter) nicht hatte finden können – und dementsprechend aufbrausend reagiert Dehlens' labile Ehefrau auch, als die Dortmunder Hauptkommissarin ihr erneut eine schlechte Nachricht überbringt. Ihr Mann wurde nämlich tot aus dem Hafenbecken gezogen. Nach einem Schuss in die Brust stürzt er einleitend zusammen mit der undurchsichtigen Judith Stiehler (Anne Ratte-Polle, Die Wahrheit stirbt zuerst) ins Wasser, die von Faber in letzter Sekunde vor dem Ertrinken gerettet und von einem Zeugen schwer belastet wird.

Ausgerechnet Stiehler zieht mit Teenager Jonas (Patrick Mölleken) einen Jungen groß, der Dehlens' vermisstem Sohn verdächtig ähnlich sieht: Das Fundament für einen verschachtelten Whodunit, in dem Maren Eggert nach ihrem vielgelobten Gastspiel im Kieler Tatort Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes erneut für eine Schlüsselrolle in die Krimireihe zurückkehrt, ist gelegt.

Regisseur Stephan Wagner (Gegen den Kopf) und Drehbuchautor Christian Jeltsch (Er wird töten) halten die Frage, wer die Mutter von Jonas ist, trotz kleinerer logischer Schwächen bis in die Schlussviertelstunde offen – und weil die Auflösung der Täterfrage nur über die DNA des Jungen führt, darf der Zuschauer dabei fleißig miträtseln.

Auch handwerklich geben sich die Filmemacher keine Blöße: Zu den am stärksten arrangierten Momenten gehört eine nächtliche Sequenz im Präsidium, in der die irritierte Boenisch heimlich Faber belauscht, der unter Alkoholeinfluss Selbstgespräche führt. Ohnehin erreichen die Spannungen zwischen den Ermittlern, deren Charakterzeichnung im 973. Tatort gewohnt intensiv vorangetrieben wird, eine neue Dimension: Faber und Kossik liefern sich bei der zweiten Tatort-Besichtigung eine handfeste Rauferei – die angeheiterte Bönisch hingegen kassiert eine herbe Abfuhr, als sie Faber nach dem dritten gemeinsamen Dosenpils an einer Pommesbude küssen will ("Besser nicht.").

Neben Kossiks Dienstaufsichtsbeschwerde und Fabers aufkeimenden Selbstzweifeln, die durch die zwangsverordnete Sitzung beim Polizeipsychologen Peter Lech (Ronald Kukulies, Spargelzeit) ausgelöst werden, widmen sich die Filmemacher in Hundstage aber noch einem weiteren Nebenkriegsschauplatz: Kossik wird aus Liebeskummer zum Trinker. So ist es ausgerechnet die in Hydra noch schwer von Dortmunder Neonazis gepeinigte und an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gebrachte Dalay, die bei hochsommerlichen Temperaturen als einzige Ermittlerin den kühlen Kopf behält.

Der inhaltlich etwas überladene Gesamteindruck – ein häufiges Dilemma im sonst so überzeugenden Dortmunder Tatort – lässt sich vor allem auf der Zielgeraden, auf der sich die Verstrickungen zwischen den Verdächtigen immer unübersichtlicher gestalten, nicht leugnen – und es wäre sicher kein Fehler gewesen, zumindest Kossiks Kneipenbesuche noch für die nächste Folge aufzusparen.

Trotz der starken Fixierung auf das Privatleben der Ermittler ist der achte Fall von Faber, Bönisch & Co. aber ein unterhaltsames und stark gespieltes Krimidrama, in dem der WDR seinen horizontalen Erzählansatz einmal mehr konsequent durchzieht.

Bewertung: 7/10

Totenstille

Folge: 972 | 24. Januar 2016 | Sender: SR | Regie: Zoltan Spirandelli
Bild: SR/Manuela Meyer
So war der Tatort:

Gebärdenreich.

In Totenstille wird nämlich unheimlich viel gesprochen – aber weniger mit den Lippen, sondern vor allem mit den Händen. Grimme-Preisträger Peter Probst (Der Traum von der Au), der das Drehbuch gemeinsam mit der gehörlosen Bloggerin Julia Probst schrieb, liefert einen Inklusionskrimi mit großem Drang zur Aufklärung – doch sein mutiger Ansatz wird nur selten in Spannungsmomente umgemünzt.

"Taubstumm sagt man nicht. Das ist genauso diskriminierend wie Zigeuner oder Neger", verbessert die neue Komissaranwärterin Mia Emmrich (Sandra Maren Schneider) den verdutzten Saarbrücker Hauptkommissar Jens Stellbrink (Devid Striesow) schon beim ersten gemeinsamen Außeneinsatz – und überhaupt ist das Bemühen der Filmemacher, mit Vorurteilen aufzuräumen und den Zuschauern die Wahrnehmung gehörloser Menschen näher zu bringen, von Beginn an spürbar. Neben den politisch korrekten Termini lernt das Publikum Folgendes: Taubsein ist relativ, die Gebärdensprache erst seit 2002 offiziell anerkannt und auch Gehörlose schwingen gern mal zum wummernden Hip-Hop-Beat von Missy Elliotts She's A Bitch die Hüften.

Passend dazu kommt beim zu lösenden Mordfall, der eigentlich gar kein Mordfall ist, die Technik des Lippenlesens zum Einsatz: Als Ruth Collignon (Maike Möller), die Geliebte des Bauingenieurs Georg Weilhammer (Martin Geuer), beim wilden Sex im Hotelzimmer an Herzversagen stirbt, entsorgt dieser ihre Leiche in der Saar – und tätigt einen folgenschweren Anruf, den ihm der in der Nähe stehende Gehörlose Ben Lehner (Benjamin Piwko) von den Lippen abliest. Prompt fordert er 10.000 Euro für sein Schweigen, denn Weilhammers Ehefrau Susanne (Nina-Mercedés Rühl) ahnt nichts von der Affäre.

"Auch Hörende haben eine Behinderung – sie können nicht Lippenlesen", gab Co-Autorin Probst, die auch regelmäßig der deutschen Fußballnationalmannschaft auf die Lippen schaut, in einem Interview zu Protokoll – doch Filmemacher Zoltan Spirandelli (Grabenkämpfe), der auch den letzten Saarbrücker Tatort Weihnachtsgeld inszenierte, meistert diese erzählerische Herausforderung.

Sätze in Gebärdensprache werden verbal wieder aufgegriffen, beim hochemotionalen Streitgespräch von Lehner und dessen gehörloser Freundin Ambra Reichert (Ressica Jaksa) schweben Untertitel durchs Bild – und wenn dem Zuschauer der genaue Wortlaut doch mal entgehen sollte, wird dank der eindeutigen Gesten zumindest die Kernaussage deutlich. Als das Geschehen hingegen aus der Perspektive eines Gehörlosen erzählt wird, setzt in einer Szene der Ton aus – ein vielversprechender Ansatz, der leider nicht weiterverfolgt wird.

Wenig dynamisch gestaltet sich auch der Einsatz von Dolmetscherin Kaiser (Mira-Esther Weischet): Viele der ohnehin schon hölzernen Befragungen werden durch das dauernde Übersetzen der Gebärden auf die doppelte Länge gestreckt – da kann Stellbrink nach Feierabend noch so wissbegierig Video-Tutorials im Netz studieren und das Erlernte mit Spurensicherungsleiter Horst Jordan (Hartmut Volle) im Büro anwenden.

Zur langsam aber sicher auftauenden Staatsanwältin Nicole Dubois (Sandra Steinbach), die wie schon in Weihnachtsgeld kaum mehr als drei Sätze sprechen darf, scheint den Verantwortlichen im 972. Tatort hingegen noch weniger einzufallen als zu Hauptkommissarin Lisa Marx (Elisabeth Brück), über deren Privatleben weiterhin nichts bekannt wird. Ganz anders Stellbrink: Der knutscht bei einer Spontanparty mit der kessen Bikerin Kassandra (Kassandra Wedel) und ist auch sonst wieder der eigenwillige Dreh- und Angelpunkt des Films.

Wenn sich der rollerfahrende Kommissar mit schalldichten Kopfhörern auf den Weg ins Präsidium macht, um die Wahrnehmungen gehörloser Menschen besser nachempfinden zu können, entwickelt sich der fünfte Tatort aus Saarbrücken aber vorübergehend zurück zur witzlosen Klamotte – das bescherte schon den ersten beiden Fällen Melinda und Eine Handvoll Paradies vernichtende Kritiken.

Totenstille ist eine ganze Ecke besser – unterm Strich aber lediglich ein (über-)ambitionierter Inklusionskrimi, bei dem Spannung und Charakterzeichnung auf der Strecke bleiben.

Bewertung: 4/10

Rebecca

Folge: 971 | 10. Januar 2016 | Sender: SWR | Regie: Umut Dag
Bild: SWR/Patrick Pfeiffer
So war der Tatort:

Stark angelehnt an den realen Entführungsfall von Natascha Kampusch – doch während 2013 nur 144.000 deutsche Kinobesucher Sherry Hormanns filmische Aufarbeitung 3096 Tage sehen wollten, wird Rebecca zum gewohnten TV-Termin am Sonntagabend vor allem dank des Tatort-Labels ein Millionenpublikum zuteil.

Wo Tatort drauf steht, ist zum Jahreswechsel 2015/2016 aber nur bedingt Tatort drin: Erst das vieldiskutierte Wiesbadener Film-im-Film-Experiment Wer bin ich?, dann die beiden Hamburger Actionfeuerwerke Der große Schmerz und Fegefeuer – und auch der 26. Fall der Konstanzer Hauptkommissare Klara Blum (Eva Mattes) und Kai Perlmann (Sebastian Bezzel) ist nicht gerade ein gewöhnlicher Beitrag zur Krimireihe.

Der inhaltlich an Verschleppt oder Abgründe erinnernde Tatort Rebecca ist eine kraftvolle Kreuzung aus Psychodrama, Krimi und Charakterstudie – und zugleich eine eineinhalbstündige One-Woman-Show der herausragenden Hauptdarstellerin. Was die 21-jährige Gro Swantje Kohlhof, die bereits im starken Bremer Tatort Die Wiederkehr als jugendliche Ausreißerin begeisterte, aus ihrer titelgebenden Rolle als verstörtes und verstörendes Entführungsopfer herausholt, ist atemberaubend – und es ist auch ihrem facettenreichen Spiel zu verdanken, dass der Film von Tatort-Debütant Umut Dag nicht früh in die unfreiwillige Komik abdriftet.

 Den Zuschauern bietet sich einleitend nämlich ein bizarres Bild: Erst verbrennt die junge Frau ihren langjährigen Peiniger Olaf Reuter bei lebendigem Leibe, später verkriecht sie sich in der Zimmerecke eines Bauernhauses, und selbst die einfühlsame Klara Blum findet keinen Zugang zu ihr. Dann aber läuft Rebecca Perlmann in die Arme – und kniet plötzlich vor ihm nieder, um die Befehle ihres neuen "Erziehers" zu empfangen. Was der verdutzte Ermittler dem traumatisierten Mädchen auch befiehlt, führt dieses umgehend aus.


PERLMANN:
Setz dich! Iss was!


Es ist eine mutige, anfangs etwas irritierende Geschichte, die Drehbuchautor Marco Wiersch dem Bodensee-Team geschrieben hat, und man muss sich auf sie einlassen – wer das kann, wird mit einem vorzüglich gespielten und auf der Zielgeraden rührenden Drama belohnt. Die Filmemacher tasten sich behutsam an ihre traumatisierte Hauptfigur heran, ohne die furchtbare Geschichte ihrer Gefangenschaft voyeuristisch auszuschlachten. Oft reichen wenige Worte der jungen Frau, um das Grauen im Kopf des Zuschauers lebendig werden zu lassen.

Während Perlmann als Rebeccas neuer Vertrauter und Erzieher wider Willen den ruhenden Gegenpol bildet, zeichnet die sonst so besonnene Blum für die aufbrausenden Momente verantwortlich: Bemerkenswert ist vor allem eine schallende Ohrfeige, die sie ihrem Kollegen nach einem unüberlegten Alleingang verpasst. Wie schon im Vorgänger Côte d'Azur wird man das Gefühl nicht los, dass der SWR den Kommissaren aus Konstanz bis zum näher rückenden Abschied in Wofür es sich zu leben lohnt noch unbedingt einen zwischenmenschlichen Konflikt andichten möchte.

Auch mit der unnahbaren Dr. Schattenberg (Imogen Kogge, Buntes Wasser) kommt es schnell zu Reibereien: Die fachkundige Psychologin grätscht den Kommissaren immer in dem Moment dazwischen, wenn diese kurz davor stehen, Rebecca Informationen zu entlocken. Der 971. Tatort funktioniert nämlich nicht nur als Psychodrama, sondern auch als Whodunit-Abwandlung: Das Mädchen war in seinem Kellerverlies nicht allein, und so entwickelt sich das ungewisse Schicksal ihrer Mitgefangenen zur Antriebsfeder der Ermittlungen.

Weil die Zahl der Nebenfiguren mit Reuters Geschäftspartner Kolb (Serge Falck, Kein Entkommen), seinem Vater Helmut (Klaus Manchen, Borowski und die Frau am Fenster) und Rebeccas Mutter Katja Fischer (Sandra Borgmann, Kaltblütig) überschaubar ausfällt, ist die Auflösung zwar keine große Überraschung – die Nüchternheit, mit der der Täter diese vorträgt, aber zutiefst beklemmend. Selbst Blum kämpft mit den Tränen - und wenn sich die junge Rebecca am Ende von ihrer einzigen echten Bezugsperson verabschieden muss, kullert wohl auch dem einen oder anderen Zuschauer eine Träne über die Wange.


REBECCA:
Ich vermisse dich, Perlmann.


Bewertung: 8/10

Fegefeuer

Folge: 970 | 3. Januar 2016 | Sender: NDR | Regie: Christian Alvart
Bild: NDR/Gordon Timpen
So war der Tatort:

Streng geheim.

Fegefeuer ist die direkte Fortsetzung zu Der große Schmerz – und wurde im Vorfeld der Erstausstrahlung für alle Journalisten und Medien unter Verschluss gehalten. Ein Prozedere, das es seit vielen Jahren bei der Krimireihe nicht gegeben hat, und die Begründung des NDR fiel seltsam aus: Man befürchtete, die Journalisten könnten Details der Handlung verraten.

Bei anderen Tatort-Folgen mit überraschenden Schlusswendungen (zum Beispiel Borowski und der stille Gast) war dem Sender das allerdings herzlich egal – und so drängte sich im Vorfeld eher der Verdacht auf, dass Hauptdarsteller Til Schweiger, der seine Kinofilme aus Prinzip schon seit Keinohrhasen nicht mehr in Pressevorführungen zeigen lässt, bei der Entscheidung ein Wörtchen mitzureden hatte. Doch die Geheimniskrämerei hat andere Gründe: Zum ersten Mal in der Tatort-Geschichte vermischt der NDR sein fiktives Krimiformat über die komplette Spielzeit mit der seriösesten deutschen Nachrichtensendung: der tagesschau.

Einzig die Münchner Abendzeitung hatte schon vorab Wind von der Aktion bekommen, doch anders als ursprünglich geplant, beginnt Fegefeuer wie gewohnt mit dem Fadenkreuz-Vorspann. Dann ist der Zuschauer plötzlich mittendrin im Geschehen: Nachrichtensprecherin Judith Rakers und ein Dutzend weiterer Geiseln geraten in die Gewalt von tschetschenischen Gangstern – ein toller Einstieg in einen Tatort, der in der Folge neue Maßstäbe in Sachen Action, Brutalität und Tempo setzt.

Selbst eine Panzerfaust bleibt den Tatort-Traditionalisten nicht erspart: Wer sich auf einen Krimi nach Schema F gefreut hat, sitzt im völlig falschen Film. Regelmäßig eingeblendete Uhrzeiten unterstreichen den Echtzeitcharakter des Actionthrillers, der dem Publikum kaum Zeit zum Luftholen lässt: In Hamburg wird einmal mehr geklotzt und nicht gekleckert.

Regisseur Christian Alvart (Kopfgeld) zieht die Actionschraube noch einmal an und liefert starke, diesmal auch atmosphärisch überzeugende Bilder – aber auch immer wieder Zeitlupen, die künstliche Dramatik schüren, wenn Schauspiel und Geschehen dafür allein nicht ausreichen. Wie schon in den vorherigen Folgen gerät LKA-Kommissar Nick Tschiller (Til Schweiger) mit Clan-Chef Firat Astan (Erdal Yildiz) aneinander, doch waren die Grenzen zwischen Gut und Böse bisher überdeutlich gezogen, verwischen sie diesmal: Astan und Tschiller müssen sich solidarisieren. Das bringt einige platte Sprüche, aber auch giftige Dialoge mit sich ("Ich verkauf Glückskekse an deinem Grab.").

Partner Yalcin Gümer (Fahri Yardim) wirkt mit seinen trockenen One-Linern ("Nimm den Schaumstoff weg!") ebenfalls nicht so überzeichnet wie in Der große Schmerz. Ohnehin sind der Humor und der Familienkitsch mit Tschiller-Tochter Lenny (Luna Schweiger) deutlich geringer dosiert, stattdessen jagt in Fegefeuer eine packende Actionsequenz die nächste. Die Logik wird vernachlässigt, die körperliche Gewalt hingegen zelebriert – zum Beispiel dann, wenn Astan einen russischen Killer stranguliert oder sich Tschiller eine spitze Klinge aus dem Nacken zieht.

Stammautor Christoph Darnstädt scheint darum bemüht, seinen explosiven Hamburger Meilenstein Der Weg ins Paradies zu übertreffen und orientiert sich dabei unverhohlen an Hollywood-Vorbildern: Die Adrenalinspritze, die dem LKA-Kommissar auf der Zielgeraden neues Leben einhaucht, kennen wir aus dem Actionthriller Crank, zwei gegen einen gemeinsamen Feind kämpfende Vertreter von Gut und Böse zum Beispiel aus dem Actionfeuerwerk The Rock, und das finale Duell im Metronom von Hamburg nach Bremen erinnert stark an berühmte Bond-Fights in Liebesgrüße aus Moskau oder Der Spion, der mich liebte.

Etwas mehr Eigenständigkeit hätte dem 970. Tatort gut zu Gesicht gestanden, doch angesichts des hohen Unterhaltungswerts sind die Anleihen aus diesen populären Kinofilmen zu verschmerzen. Fegefeuer ist nicht weniger als der adrenalinschwangerste Tatort aller Zeiten – und zugleich der mit Abstand beste Schweiger-Tatort, der die Neugier auf den wenige Wochen später anlaufenden (aber kolossal floppenden) Kino-Tatort Tschiller: Off Duty weckt.

Angesichts der inhaltlichen Parallelen zu den Terror-Anschlägen von Paris ist auch die Verschiebung der Doppelfolge nachvollziehbar: Manch einer hätte die Ausstrahlung im November wohl als geschmacklos empfunden.

Bewertung: 8/10

Der große Schmerz

Folge: 969 | 1. Januar 2016 | Sender: NDR | Regie: Christian Alvart
Bild: NDR/Gordon Timpen
So war der Tatort:

Eher sprachlos als atemlos – denn Superstar Helene Fischer darf bei ihrem mit Spannung erwarteten Gastauftritt im umfangreich beworbenen Action-Spektakel Der große Schmerz als russische Killerin und Ex-Prostituierte Leyla kaum mehr als ein paar Sätze sagen.

"Freundin wurde totgefickt, aber ich nicht", ist noch die schlagzeilenträchtigste ihrer wenigen deutsch-russischen Textzeilen – doch wer glaubt, der Auftritt der zum Zeitpunkt der TV-Premiere in Deutschland beispiellos erfolgreichen Sängerin sei ein Schwachpunkt des Films, sieht sich getäuscht. Die große Hoffnung im Kampf gegen die übermächtige Quotenkonkurrenz aus Münster macht ihre Sache überraschend gut – Fischer muss angesichts des geringen Redepensums aber auch kaum mehr tun, als durch ihre grünen Kontaktlinsen gefühlskalt aus der Wäsche zu gucken.

Der NDR und Drehbuchautor Christoph Darnstädt, der bereits Willkommen in Hamburg und Kopfgeld konzipierte, wissen um die geringe Schauspielerfahrung der Schlager-Queen und lassen daher andere die Kohlen aus dem Feuer holen: Im Rahmen einer recht simpel gestrickten Entführungsstory liefert sich LKA-Kommissar Nick Tschiller (Til Schweiger) erneut ein erbittertes Duell mit Erzfeind Firat Astan (Erdal Yildiz, Mutterliebe) und steht dabei noch stärker im Brennpunkt als bisher.

Astan sitzt zwar hinter Gittern, hat aber vom Knast aus einen russischen Hilfstrupp um Killerin Leyla angeheuert, der prompt Tschillers Tochter Lenny (Luna Schweiger) und seine Ex-Frau Isabella Schoppenroth (Stefanie Stappenbeck) kidnappt. Tschiller wagt einen Alleingang in bester Rambo-Manier und seine meist tödliche Selbstjustiz stellt am Ende sogar das gute Verhältnis zu seinem treuen Partner Yalcin Gümer (Fahri Yardim) auf die Probe.


GÜMER:
Wir sind hier nicht in Texas, okay?


Auch wenn der 969. Tatort, der wegen der Pariser Terroranschläge um sechs Wochen verschoben wurde, nicht in den Vereinigten Staaten spielt, ist er näher dran an amerikanischem Popcorn-Kino als die meisten anderen Ausgaben der Krimireihe: Regisseur Christian Alvart, der bereits die ersten beiden Tschiller-Einsätze inszenierte, beweist trotz der inflationären Verwendung von Zeitlupe erneut sein gutes Gespür für Actionfilme und liefert gemeinsam mit Kameramann Jakub Bejnarowicz (Die Ballade von Cenk und Valerie) Bilder, die die große Leinwand nicht scheuen müssten.

Die Schwächen der Geschichte kann die überzeugende Optik allerdings nicht kaschieren: Wer schon Willkommen in Hamburg und Kopfgeld nicht mochte, wird auch an Der große Schmerz keinen Gefallen finden. Raffinierte Wendungen, pfiffige Dialoge oder vielschichtige Charaktere mit Tiefgang sucht man vergebens: Einzig bei Leyla verwischen die ansonsten überdeutlich gezogenen Grenzen zwischen Gut und Böse.

Zu den Bösen zählt auch Sascha "Ferris MC" Reimann (Hochzeitsnacht), der den Titelsong zur Fortsetzung Fegefeuer beisteuert und in der Rolle des brutalen Aleksej Brotzki mit von der Partie ist: Der Trend zu prominenten Gaststars – man denke zurück an Boxer Arthur Abraham in Willkommen in Hamburg – setzt sich an der Waterkant fort. Und es ergeben sich weitere Parallelen zu Kinofilmen wie Kokowääh oder Honig im Kopf: Schweiger ist nicht nur als LKA-Kommissar in der Zwickmühle gefordert, sondern auch in seiner Paraderolle als besorgter Vater.

Trotz des reißerischen Krimititels wirkt der Großteil der Emotionen allerdings behauptet – da kann ihm Tochter Luna beim kitschigen Showdown noch so bedeutungsschwanger in Zeitlupe um den Hals fallen. Auch mit Gümers ständigen Selbstgesprächen, die in einem albernen Monolog vor dem Spiegel gipfeln, übertreiben es die Filmemacher deutlich – viel witziger fällt da ein Besuch im Bordell aus, bei dem der aufgeweckte Hamburger Jung' eine Prostituierte mit üppiger Lockenfrisur Valderrama tauft.

 Unter dem Strich weckt Der große Schmerz aber nur bedingt die Neugier auf Fegefeuer, den zweiten Teil der Doppelfolge, und den Kino-Tatort Tschiller: Off Duty, der im Februar 2016 in den Kinos startet. Dass in beiden Filmen auch der charismatische Bösewicht Astan zurückkehrt, verdankt er einem dicken Logikloch im Drehbuch – es ist nicht das einzige, mit dem der dritte Schweiger-Tatort zu kämpfen hat.

Bewertung: 5/10



Wie haben die anderen Tatort-Kommissare auf Helene Fischers Auftritt reagiert? 
Vielleicht so:
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