Erbarmen. Zu spät.

Folge: 1243 | 10. September 2023 | Sender: HR | Regie: Bastian Günther

Bild: HR/U5 Filmproduktion

So war der Tatort:

Erbarmungslos.

Denn wer glaubt, der Hessische Rundfunk würde nach dem vielkritisierten Frankfurter Vorgänger Leben Tod Ekstase (dem außer dem Autor dieser Zeilen nur wenige etwas abgewinnen konnten) seinen Kurs korrigieren und auf klassischere Krimi-Unterhaltung setzen, wird ohne Gnade eines Besseren belehrt: Erbarmen. Zu spät., dessen Krimititel auf einen Kultsong der Rodgau Monotones anspielt, ist der nächste Frontalangriff auf die Sehgewohnheiten des Stammpublikums und unterläuft die Erwartungshaltungen bis zu seinem höchst irritierenden Finale.

Erbarmungslos – so lautet auch der Titel eines der besten Western aller Zeiten, in dem Regisseur und Hauptdarsteller Clint Eastwood 1992 den Abgesang auf ein ganzes Genre anstimmte. Ein Anti-Western als Western. Bleibt man im Bild, ist der mit vielen Western-Elementen gespickte 1243. Tatort ein Anti-Krimi als Krimi – oder zumindest ein Anti-Krimi auf dem für Krimis reservierten Sendeplatz. Das freut das Feuilleton, während Otto Normalzuschauer tobt (oder einschläft).

Eine Leiche zum Auftakt gibt es in diesem rätselhaft-reizvollen Tatort nicht wirklich. Im Prolog werden wir Zeuge, wie der Polizist Simon Laby (Sebastian Klein, Wer zögert, ist tot) ein paar Kiffer ermahnt, vergeblich Raser zu blitzen versucht und sich mit zwei Personen trifft, die in einem anderen Wagen sitzen: Der polizeibekannte Nazi Anton "Terror-Toni" Schilling (Niels Bormann, Der kalte Fritte) und Polizist Peter Radomski (überragend: Godehard Giese, Falscher Hase), den der Frankfurter Hauptkommissar Paul Brix (Wolfram Koch) aus seiner Zeit bei der Sitte kennt. Fast zwanzig Jahre haben die beiden sich nicht gesehen.

Der vorübergehend führerscheinlose Brix ist es auch, der nach dem Prolog die nächtlichen Ermittlungen in der Wetterau leitet: Laby ist, so reimen wir uns zusammen, verschwunden und seine schwangere Ehefrau angemessen besorgt. Man vermutet seine Leiche verbuddelt auf einem Acker. Schilling ist als angetrunkener Zeuge in Handschellen dabei, den Beamten aber keine Hilfe. Er erinnert sich nicht, wo man Laby – angeblich in seinem Beisein – attackiert hat. Fast eine halbe Filmstunde geht das so. Fahren, reden, halten, suchen. Fahren, reden, halten, suchen.

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BRIX:

Ich kenne bald die komplette Wetterau. Der Typ ist entweder vergesslich oder es macht ihm Spaß, von uns rumgefahren zu werden.

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Nicht nur Brix, sondern auch das Publikum tappt dabei buchstäblich im Dunkeln: Erbarmen. Zu spät. spielt fast ausschließlich nachts und ist über weite Strecken so spartanisch ausgeleuchtet, dass man den beinahe in Echtzeit ablaufenden Film nur in einem stockfinsteren Raum schauen kann, um nichts Wesentliches zu verpassen. Regisseur und Drehbuchautor Bastian Günther, der bereits den umstrittenen Murot-Meilenstein Wer bin ich? für den HR inszenierte, zwingt uns so zur Aufmerksamkeit. Second Screen oder Nebenher-Bügeln? Nicht machbar bei dieser Momentaufnahme der Polizeiarbeit, der die klassische Tatort-Dramaturgie fast vollständig abgeht.

Erst in Minute 27 (!) betreten Hauptkommissarin Anna Janneke (Margarita Broich) und Alles-klar-Assistent Jonas (Isaak Dentler) das Setting, kurz darauf Staatsanwalt Bachmann (Werner Wölbern), der nach längerer Abstinenz (letzter Auftritt in Wer zögert, ist tot) wieder dabei ist. Er wischt sich erst Kotspuren vom Schuh und diskutiert danach beim zweiminütigen Freiluft-Pullern mit Brix. Im Mittelteil hat der Krimi, allen Kuriositäten und erzählerischen Spielereien zum Trotz, seine konventionellsten Momente: Wer mit Tatort-Experimenten nichts anfangen kann und tapfer bis zu diesem Zeitpunkt durchgehalten hat, darf sich für ein paar Minuten abgeholt fühlen.

Dann aber beginnt das letzte Filmdrittel, das uns auf eine Wildschwein-Jagd in einem düsteren Wald entführt und mehr Fragen aufwirft, als zu beantworten. Autos strahlen im Spotlight, Gesichter im Scheinwerferlicht. Alles kunstvoll gestaltet, alles sehr stimmungsvoll arrangiert, aber eine echte Spannungskurve ist nicht auszumachen. Es ergibt sich (einmal mehr) das Bild von einem rechten Netzwerk unter Polizisten, die nicht nur über Leben und Tod, sondern sogar über das Wetter bestimmen. Das blutige Finale, das wir → in diesem Artikel erörtern, kommt im verstörenden Mantel einer biblischen Plage daher, als Überhöhung ins Phantastische, durch die der Film die letzte Bodenhaftung verliert.

Man kann solche mutigen Tatort-Experimente verteufeln oder in den Himmel loben, man kann sie lieben oder hassen – der Autor dieser Zeilen ist diesmal hin- und hergerissen. Und so kommt unterm Strich eine Bewertung dabei heraus, die dem Film als nackte Zahl nicht im Geringsten gerecht wird: Der 18. Frankfurter Fadenkreuzkrimi mit Janneke und Brix ist vieles, er ist Anti-Krimi und Western, er ist Landstraßenballade und Dialogmarathon – aber graues Mittelmaß ist er ganz sicher nicht.

Bewertung: 5/10

👀 Erklärung: Das hat es mit dem blutigen Tatort-Finale auf sich

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📅 Ausblick: Dieser Krimi läuft am nächsten Sonntag